Isch geh Schulhof: Erfahrung
muss sie lachen und zeigt dann unauffällig auf zwei Kinder. Tiffany, ein relativ großes und kräftiges Mädchen mit dunklen, krausen Locken, stehe beispielsweise noch ziemlich am Anfang, obwohl sie eigentlich schon Sternenkind ist.
»Was meinst du mit ›eigentlich‹?«, frage ich verwundert, woraufhin Chrissi mir erklärt, dass Tiffany eine Verweilerin sei. Ich schaue sie immer noch fragend an.
»Bis vor Kurzem hieß das Sitzenbleiben«, erklärt sie mir.
Bei einem weiteren Blick auf die Tafel entdecke ich einen Magneten, der ganz weit vorne hängt. Darauf ist der Name A ş kın zu lesen. Chrissi zeigt auf einen kleinen, rothaarigen Jungen im hinteren Teil der Klasse. Laut Magnettafel ist er zwar noch Mondkind, also Zweitklässler, aber schon längst beim Lernpensum der Sternenkinder angekommen.
»Wenn A ş kın so weitermacht«, freut sich Chrissi, »kann er direkt in die vierte Klasse gehen.«
Er und Tiffany seien allerdings ihre krassesten Ausreißer in der Statistik. Der Rest der Kinder bewege sich auf Normalniveau. Dann erklärt sie mir, dass der Großteil ihrer Klasse vor allem im sprachlichen Bereich große Defizite aufweise. In diesem Moment kommt eine Schülerin zu uns.
»Frau Dings, isch muss Klo!«
Chrissi sieht mich vielsagend an und schickt die Kleine zur Toilette.
Als wir schließlich mit dem Unterricht beginnen, kommen zwei Schülerinnen zu mir, um mich nach meiner Körpergröße zu fragen. Als ich ihnen mit einem Augenzwinkern erkläre, dass ich tausend Meter groß bin, schaltet sich ein Schüler ein.
»Ohaaaaaa«, ruft er laut, was offensichtlich ein Ausdruck des Erstaunens ist. »Ers iebergroß! Wie eine Kratzenwolker!«
Chrissi schaltet sich ein und klärt mich kurz über den Jungen auf, der auf meinen kleinen Scherz hereingefallen ist. Nach ihrer Darlegung ist mir klar: Murat ist einer der leistungsschwächsten Schüler der Klasse. Sein Vater arbeitet schon lange in Bayern, weshalb Murat der einzige ›Mann‹ im Haus ist und von seiner Mutter wie ein kleiner Prinz behandelt wird.
»Murat braucht einfache und klare Ansagen«, empfiehlt Chrissi mir. »Am besten ausschließlich in Hauptsätzen.«
Ich suche seinen Magneten und entdecke ihn ganz links. Als ich Chrissi darauf ansprechen will, werde ich jedoch von einem Kind unterbrochen, das mir von hinten auf den Rücken springt und in Sekundenschnelle meine Ohrmuschel ausleckt. Erschrocken drehe ich mich herum, sodass der Junge loslassen muss und auf seinen Füßen landet.
»Gotthard!«, brüllt Chrissi und rennt zu ihm. Er muss heimlich auf den Tisch hinter mir geklettert sein, um sein kleines Kunststück zu vollführen. Chrissi begleitet ihn zu seinem Platz und gibt ihm die Order, weiter in seinem Heft zu arbeiten.
Aber Gotthard hat offensichtlich andere Pläne. Er legt sich unter den Tisch, schnappt sich dort einen Turnbeutel als Kissen und macht ein kleines Nickerchen. Mit offenem Mund starre ich Chrissi an, als sie mit einem Taschentuch in der Hand auf mich zukommt. Auf meinen fragenden Blick erklärt sie mir, dass Gotthard erst fünf Jahre alt und ihrer Meinung nach noch nicht schulreif, sondern ein Kindergartenkind sei. Seit Kurzem würden Kinder aber in dem Jahr eingeschult, in dem sie ihr sechstes Lebensjahr vollenden. Nur ein Sonderantrag könne daran etwas ändern, aber den hätten Gotthards Eltern nicht gestellt. Sie seien Teil eines senegalesischen Familienclans, weil sie sich Chrissi jedoch nie vorgestellt hätten, könne sie zu denen sonst nichts sagen.
Aus dem Augenwinkel kann ich gerade noch sehen, wie Gotthard plötzlich aus der Klasse rennt, und mache mich sofort auf den Weg, um ihn einzufangen. Als ich zwei Stockwerke später hechelnd vor ihm stehe, schmeißt er sich plötzlich auf den Boden und weint. Dabei fällt mir auf, dass er bisher noch kein Wort gesprochen hat. Als ich ihn auffordere, in die Klasse zurückzukehren, stößt er verschiedene Laute aus, von denen ich vermute, dass sie der Muttersprache seiner Eltern entstammen. Weil er nicht mitkommt, nehme ich ihn kurzerhand auf den Arm und trage ihn zurück in die Klasse. Unterwegs singt er afrikanische Lieder, und an seinem Platz angekommen, versteckt er sich schnell wieder unter dem Tisch.
Bei A ş kın angekommen, bittet mich ein Junge namens Mert-Çan um Hilfe. Er sitzt gegenüber von A ş kın, ist ebenfalls Mondkind, aber noch immer mit den Heften der Sonnenkinder beschäftigt. Seine Brille sitzt schief in seinem Gesicht, und sein Mund steht weit
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