Isch geh Schulhof: Erfahrung
-Schrott nur ausgedacht?«, fragt sie mich, als sie endlich Notiz von mir nimmt.
Richtig, heute ist es so weit: Ich bin zum ersten Mal in einer Lerngruppe eingesetzt, die nach dem sogenannten Jahrgangsübergreifenden Lernen, kürz JÜL , unterrichtet wird. Seit dem letzten Jahr gibt es an unserer Schule also keine ersten, zweiten und dritten Klassen mehr, sondern nur noch Lerngruppen, in denen die Erst-, Zweit- und Drittklässler zu jeweils einem Drittel gemeinsam unterrichtet werden. Ich wende mich wieder meiner Kollegin zu und informiere sie darüber, dass ich ihr ab heute als Assistenzlehrer zur Verfügung stehe. Sie schaut einen Moment lang genervt in die Klasse und schlägt mir dann vor, Kaffee trinken zu gehen, denn letztlich würde ich ihr mehr Arbeit machen, als ich ihr abnähme.
Na, schönen Dank auch!
Die nächste Frage der kleinen Cassandra bringt das randvolle Fass der Klassenlehrerin dann endgültig zum Überlaufen. Sie dreht sich um und brüllt den laufenden Meter aus voller Brust an: » NEIN , CASSANDRA , JETZT NICHT !«
Die Kleine zuckt zusammen, und in der Klasse herrscht plötzlich eisige Stille. Dann erklärt Frau Krüger mit bebender Stimme, dass beim Arbeiten absolute Ruhe herrschen müsse – bei fünfundzwanzig Kindern in einer Altersspanne von fünf bis neun Jahren eine geradezu groteske Forderung.
Aber so läuft das eben, wenn man neue Unterrichtskonzepte einführt, ohne das Personal im Vorfeld einzubinden. Und das ist verdammt schade, denn bei JÜL – das habe ich gestern noch recherchiert – handelt es sich eigentlich um ein wirklich kluges Konzept. Weil die Kinder hier keine starren Klassenstrukturen mehr haben, sondern verschiedene Lernwege beschreiten, können sie (unter der richtigen Anleitung wohlbemerkt) ihr Lerntempo selbst bestimmen.
Bisher hat mich unser Schulsystem eher an das Bild erinnert, auf dem ein Elefant, ein Affe, ein Goldfisch und ein Hund vor einem Baum stehen. Ein Lehrer erklärt den Vieren, dass sie für eine faire Bewertung nun alle die gleiche Aufgabe erfüllen müssen: auf den Baum klettern. Und genau dabei soll JÜL nun Abhilfe schaffen.
Als Frau Krüger sich erschöpft an den Lehrertisch setzt und mir erklärt, dass sie mit der Vorbereitung des Unterrichts für drei verschiedene Altersklassen vollkommen überfordert sei, öffnet sich die Klassentür und ein Junge betritt den Raum – im Schlafanzug. Auf Frau Krügers Nachfrage erklärt er weinend, dass er seine Kleidung nicht gefunden habe und seine Eltern noch schliefen, als er losmusste. Die vollkommen entnervte Lehrerin bittet mich, die Regie in der Klasse zu übernehmen, während sie mit dem Jungen ins Sekretariat verschwindet, um die Eltern des Jungen anzurufen.
Die kleine Cassandra steht hilflos vor mir. Sie ist eine Zweitklässlerin, was im JÜL -System Mondkind heißt, und erklärt mir, dass Erstklässler Sonnen- und Drittklässler Sternenkinder genannt werden.
Sonne, Mond und Sterne – das kann ich mir wohl gerade noch merken.
Cassandra hat heute die Aufgabe, Buchstaben nachzumalen. Ich helfe ihr bei der Stiftführung, und als ich den Eindruck habe, sie kommt einigermaßen voran, widme ich mich den Anfragen der anderen Kids. Eine JÜL -Klasse ist in der Tat nicht leicht zu betreuen, denn alle sind mit unterschiedlichen Aufgaben beschäftigt.
Nachdem Frau Krüger und der Junge im Schlafanzug wieder in der Klasse angekommen sind, verbringe ich die restliche Stunde damit, den Schülern bei ihren Aufgaben zu helfen, und begebe mich dann in die Nachbarklasse. Hier steht mir die gleiche Mission bevor – allerdings bei Chrissi.
Als sie mich erblickt, hellt sich ihre Miene auf, und sie begrüßt mich herzlich in der Klasse.
»Du bist das erste Mal in JÜL , oder?«
Ich nicke, also will sie mir zuerst beibringen, wie das Erlernen der Grundfertigkeiten in JÜL funktioniert. Am wichtigsten sei es, sagt Chrissi, erst einmal alles zu vergessen, was ich über den klassischen Mathe- und Deutschunterricht gelernt hätte.
»Kein Problem«, sage ich grinsend.
Dann erklärt mir Chrissi die Lernwege, die ich bereits aus der Beschreibung im Internet kenne, Rechnen, Lesen und Schreiben, und zeigt mir dann eine Magnettafel, auf der abgebildet ist, wie weit die einzelnen Kids auf den verschiedenen Lernwegen sind. Dabei fällt mir auf, dass die Magnete teilweise sehr weit auseinander liegen. Über meine Frage, ob die großen Abstände zwischen den Magneten durch die verschiedenen Altersstufen zustande kämen,
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