Isch geh Schulhof: Erfahrung
gewalttätig war und seine Familie vor einigen Jahren verlassen hat. Seine Mutter dagegen ist schwer alkoholkrank, langzeitarbeitslos und ein psychisches Wrack. Sebastians älterer Bruder saß schon mehrmals im Jugendarrest, und Sebastian scheint in seine Fußstapfen zu treten. Er ist äußerst aggressiv, auch gegenüber Lehrern, und kommt fast täglich ohne Essen zur Schule. Frau Sommers Vorgängerin hat wohl mehrere Kontaktversuche zur Mutter gestartet, aber das hat auch nichts gebracht. Das Jugendamt hat für solche harmlosen Fälle keine Zeit, und so werden wir mit Sebastians Situation wohl oder übel auskommen müssen.
Meine Kollegin atmet einmal tief durch. »Das ist also unsere Klasse!«
»Wieso unsere?«
»Na ja, Frau Schneider ist zwar die stellvertretende Klassenlehrerin, aber so schwer krank, dass sie vermutlich oft für mehrere Wochen ausfallen wird. Du hast außer mir die meisten Stunden in der Klasse, und wie du siehst, kann ich tatkräftige Unterstützung gut gebrauchen.«
Offensichtlich.
»Auf meiner alten Schule«, erklärt sie mir auf dem Rückweg, »war ich auch Klassenlehrerin. Ich erzähl dir jetzt mal, warum ich gegangen bin.«
Dann berichtet sie mir davon, dass im letzten Schuljahr fünf neue Schüler in ihre Klasse gesteckt wurden – allesamt Sinti und Roma.
»Na ja, die müssen ja auch irgendwo zur Schule gehen, oder?«, frage ich vorsichtig.
»Klar, aber jetzt pass auf: Die kamen ohne Schulmappen und ohne Essen, und keiner von ihnen hat auch nur ein Wort Deutsch gesprochen. Als ich einem mit Händen und Füßen erklärt habe, dass er seine Jacke ausziehen kann, hat er angefangen zu weinen.«
Na gut, vor diesem Hintergrund ist unsereKlasse vielleicht doch gar nicht so schlimm.
11
Sportlehrer in drei Minuten
A n der Sporthalle angekommen, treffe ich Geierchen und erzähle ihm kurz von meiner neuen Klasse, doch den schockt gar nichts mehr. Stattdessen klärt er mich über den Job als Sportlehrer auf. Immerhin ist er seit gut dreißig Jahren im Dienste der Leibesertüchtigung unterwegs.
»Schone deine Stimme!«, rät er mir und inspiziert meine Trillerpfeife. Dann geht er mit mir den Ablauf einer Sportstunde durch, erinnert mich an ein paar Spiele aus meiner eigenen Schulzeit und schärft mir dann die drei wichtigsten Lernziele des Sportunterrichts ein.
»Regeln, Regeln und noch mal: Regeln«, erklärt er entschieden. »Außerdem solln die armen Teufel sich ma richtig austoben. In unsern beschissnen Schulsystem hocken die sonst ja nur uff ihrn Arsch …«
Dann weist er mich auf die Tücken beim Geräteturnen hin, klopft mir kameradschaftlich auf die Schulter und will in Richtung Schulgebäude abrauschen. Doch dann fällt ihm noch etwas ein.
»Möller, eens noch – janz wichtig!«
Er kommt ganz nahe und wird leiser.
»Ne Fünfte haste, wa? Jut, pass uff … Als Sportlehrer stehste quasi immer mit een Been in Knast!«
»Wegen der Verletzungsgefahr?«
»Nein, Mensch. Wegen der Mädels!«
Er packt mich fest am Oberarm und macht mir unmissverständlich klar, dass einige der Mädels ihre Wirkung aufs männliche Geschlecht bereits sehr gut kennen, weshalb ich sie immer genauso behandeln soll wie alle anderen Schüler.
»Jehe niemals zu die Mädels inne Umkleidekabine, klar?«, flüstert er mir zu.
»Aber ich hab doch Aufsichtspflicht«, entgegne ich.
»Is doch scheißejal, und wenn die aus’n Fenster hüppen – du bleibst draußen!«
Das war also meine Fortbildung Sportlehrer in drei Minuten , womit sogar mein Crashkurs zum Mathelehrer unterboten wäre. Aber schließlich bin ich inzwischen so etwas wie eine erfahrene Lehrkraft. Quasi.
Als Geierchen abzieht, kommen die ersten Schüler der 5a auf mich zu und fragen wild durcheinander, was wir heute spielen und ob sie auch in Jeans und Straßenschuhen mitmachen dürfen.
»Auf keinen Fall!«, erkläre ich mit lauter Stimme, woraufhin Geierchen sich noch einmal umdreht und mir mit fuchtelnden Armen zu verstehen gibt, ich solle meine Pfeife benutzen. Ich puste also einmal probeweise in meine nigelnagelneue Trillerpfeife und erkläre den Kids dann, dass sie zwei Minuten Zeit hätten, sich umzuziehen. Wer zu spät kommt, mache ich klar, läuft zwei Extrarunden, und als Khalim entrüstet nachfragt, wer das entscheide, gebe ich die Universalantwort meines Sportlehrers aus der Oberschule: »Drei Runden für dich. Noch Fragen?«
Ruhe kehrt ein. Ich schicke die Klasse in ihre Umkleidekabinen, ziehe mir meine Sportschuhe an und
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