Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
gehen“, verlangte Phoebe zerstreut. Sie hob einen Arm mit der Anmut einer Ballerina und streifte sich einen Seidenhandschuh über. „Wenn ihr herumsteht und den ganzen Abend streitet, kommen wir noch zu spät.“
Sie und Lucy waren sich nicht einig, wie Kathleens Haar frisiert werden sollte, und Deborah nutzte die günstige Gelegenheit, aus dem Salon zu schlüpfen. Über den Korridor lief sie in das höhlenartige Foyer, wo ihr Kutscher auf sie wartete. Draußen sah sie die schwerfällige Schulkutsche, vor die gerade ein Paar kräftiger Pferde gespannt wurde. Auf den schwarz lackierten Türen prangte das Wappen der Schule.
Deborahs privater bismarckbrauner Clarence mit den glänzenden Glasfenstern vorne und hinten wartete am Straßenrand dahinter. Dank des Hangs ihres Vaters, aus seinem Reichtum kein Geheimnis zu machen, stand ihr das teure Gefährt samt erfahrenem Kutscher und spanischem Pferd stets zur Verfügung. Binnen weniger Minuten war sie unterwegs.
Sie umfasste die Lederschlaufe an der Seite im Inneren der Kutsche, um durch das Schaukeln nicht hin und her geworfen zu werden. Als sie von der Schule mit ihren zahllosen Türmchen und Erkern und dem schmiedeeisernen Tor fortfuhr, fühlte sie sich wie Rapunzel, die ihrem Turmgefängnis entkommen war. Kleine Farmen und Bauernhöfe zogen am Kutschenfenster vorbei, niedrige Häuser, die sich in die Prärielandschaft mit ihren alten Obstgärten und windzerzausten Getreidefeldern duckten. Lichter glommen in den Fenstern, bei deren Anblick sie einen Stich verspürte. Sie stellte sich die Familien darin vor, wie sie sich zum Abendessen um den Tisch versammelten. Deborah hatte solche Familien nur von Weitem beobachtet, glaubte aber, dass sie eine Vertrautheit und Herzlichkeit miteinander verband, wie sie sie in dem förmlichen Klima ihres Vaterhauses nie erlebt hatte.
Sie verdrängte die alte Sehnsucht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Vorteile genossen, von denen die meisten Frauen gar nicht zu träumen wagten. Arthur Sinclair hatte die Zukunft seiner Tochter mit derselben Sorgfalt und Aufmerksamkeit für Details vorbereitet, mit der er seine Geschäfte abwickelte. Seine Rivalen verunglimpften ihn wegen seiner Aggressivität und seines Ehrgeizes, aber Deborah konnte nicht beurteilen, ob sie recht hatten – sie wusste wenig über seine Fabriken und Geschäftsbeteiligungen. Ihrem Vater war es so lieber.
Die Fahrt nach Chicago dauerte nicht lange. Jeremy, der ihr seit ihrem dritten Lebensjahr als Kutscher diente, lenkte das Gefährt erfahren über die langen geraden Straßen, die die Innenstadt durchschnitten. Er lebte in einem Gartenhaus am Nordarm des Chicago River. Er hatte eine rundliche Frau und eine erwachsene Tochter, die kürzlich geheiratet hatte. Deborah fragte sich, was Jeremy wohl tat, wenn er zu ihnen heimkam, spät in der Nacht. Berührte er seine schlafende Frau oder entzündete er einfach eine Lampe und schaute sie einen Moment lang an? Wachte sie auf oder seufzte sie nur im Schlaf und drehte sich zur Wand?
Deborah ließ ihre Gedanken absichtlich schweifen, um nicht an die schwere Aufgabe denken zu müssen, die ihr bevorstand. Rastlos rutschte sie auf ihrem Sitz umher, ließ die Lederschlaufe los, hielt sich die Hände wie ein Fernglas vor die Augen und beugte sich vor, um durch die Glasscheibe zu schauen, als Chicago in Sicht kam. Gewöhnlich war die Luft näher am See kühler, aber heute Abend hielt sich die Hitze noch lange nach Sonnenuntergang.
Das weißlich verschwommene Licht der Gaslaternen beleuchtete die geraden Hauptstraßen. Die Kutsche überquerte den Fluss, rollte an dem eleganten Hotel vorbei, in dem die Lesung heute Abend stattfand. Es waren bereits mehrere gut gekleidete Menschen versammelt. Livrierte Portiers eilten unter dem Stoffbaldachin vor dem Hotel auf und ab, der in dem heftigen Wind hin und her schlug. Riesige Pflanzen in Töpfen standen zu beiden Seiten des gläsernen Eingangs, und innen strahlte ein ausladender Kronleuchter wie die Sonne. Der vergoldete Käfig der guten Gesellschaft war die einzige Welt, die Deborah je gekannt hatte, aber es war eine Welt, in der sie sich nicht länger sicher fühlte. Es erschien ihr unmöglich, jetzt das Hotel zu betreten.
Traditionell für den zweiten Sonntag im Monat angesetzt besaßen die interessanten Vorträge und lebhaften Diskussionen gewöhnlich einen besonderen Reiz für sie. Sie liebte es, Menschen herausgeputzt zu sehen, die zufrieden stärkende Getränke zu sich nahmen,
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