Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
mich gewiss bis zum ersten Hahnenschrei beschäftigen.“ Keck wie immer betonte sie ihren Dialekt absichtlich.
„Du solltest mit uns kommen, Kathleen.“ Lucy, deren Familie sie zum Freidenkertum erzogen hatte, scherte sich kein bisschen darum, welcher Herkunft jemand war, aber sie wusste, dass wichtige Leute heute Abend bei der Veranstaltung zugegen sein würden. Die Politiker, Industriellen und Gesellschaftsreformer waren wertvolle Kontakte für ihr großes Ziel – mehr Rechte für Frauen.
„Wirklich, Lucy“, schalt Phoebe. „Nur die besten Bürger der Stadt sind geladen. Dr. Moodys Lesungen sind ausschließlich für …“
„Die Einladung gilt für jede junge Dame bei Miss Boylan“, hielt Lucy entschieden dagegen, die sowohl reich als auch unbedarft genug war, sich für Gleichberechtigung einzusetzen.
„Unsinn“, erklärte Kathleen und wurde noch röter.
„Vielleicht solltest du uns wirklich begleiten“, antwortete Phoebe mit einem berechnenden Funkeln in den Augen. „Es könnte Spaß machen, alle mit einer geheimnisvollen jungen Dame zu überraschen.“
Die alte Deborah wäre von dieser Idee begeistert gewesen. Denn die lebhafte, kluge Kathleen bereicherte die oft genug ermüdende Routine gesellschaftlicher Ereignisse mit scharfsinnigen Beobachtungen. Darüber nachzudenken war Deborah jetzt jedoch zu viel; sie strich sich mit zitternder Hand über die Stirn. Die Zelluloid-Haarnadeln, die zu entfernen sie sich gestern Abend erspart hatte, verstärkten die Kopfschmerzen in einem Maß, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste. Der Schmerz pochte so heftig in ihren Schläfen, als ob die Nadeln pulsierten oder gar lebendig wären.
„Phoebe hat recht, Kathleen“, sagte Lucy in dem Moment. „Es wird solchen Spaß machen. Bitte komm mit.“
„Ich habe nichts anzuziehen, das mich nicht sofort als Hochstaplerin entlarven würde“, erwiderte Kathleen, aber ihr Protest vermochte die Sehnsucht in ihrer Stimme nicht zu verbergen. Die gute Gesellschaft hatte sie immer schon insgeheim fasziniert.
„Doch hast du.“ Nur mit Mühe gelang es Deborah, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. „Du kannst mein neues Kleid tragen. Ich brauche es nicht.“
„Dein Kleid von Worth?“, fragte Phoebe. Auf Wunsch ihres Vaters stammten Deborahs Kleider alle aus dem Salon de Lumière in Paris. „Um Himmels willen, das hast du ja noch nie angehabt.“
„Und das werde ich auch nicht.“ Deborah achtete darauf, so ruhig wie möglich zu klingen, auch wenn sie am liebsten geschrien hätte. „Ich muss in die Stadt fahren, um meinen Vater zu sehen.“ Sie konnte selbst nicht sagen, wann genau sie das beschlossen hatte, aber jetzt stand es für sie fest. Sie hatte etwas unendlich Wichtiges mit ihm zu besprechen. Und es ließ sich nicht länger aufschieben.
„Du kannst heute Nacht nicht in die Stadt“, rief Phoebe. „Sei nicht albern. Wer sollte dich begleiten?“
„Komm einfach mit uns“, meinte Lucy sanft. „Komm mit zur Lesung, und danach fahren wir mit dir zu deinem Vater. Philip Ascot wird ebenfalls heute Abend bei dem Vortrag sein, nicht wahr? Er wird mit deinem Kommen rechnen und auf dich warten. Was, um alles auf der Welt, sollten wir ihm nur sagen?“
Der Name ihres Verlobten umwehte Deborah wie ein eisiger Wind. „Ich werde mich entschuldigen.“
„Du bist gar nicht du selbst.“ Lucy berührte sie am Arm, und die leichte Geste der Zuneigung reichte beinahe aus, Deborah die Beherrschung verlieren zu lassen. „Wir werden ja verrückt vor Sorge, wenn du uns nicht sagst, was eigentlich los ist.“
Phoebe streckte einen Fuß aus, sodass Kathleen ihr den Ziegenlederstiefel zuknöpfen konnte. „War es die Oper gestern Abend? Du warst bester Stimmung, als du gegangen bist, aber heute bist du den ganzen Tag im Bett geblieben. Hat dir Don Giovanni nicht gefallen?“
Deborah wandte sich ab, als eine Welle der Übelkeit sie erfasste. Die Noten von Mozarts Meisterwerk hatten sich auf ewig in ihr Gedächtnis gebrannt.
„Es ist der Monatsfluss, nicht wahr?“, flüsterte Kathleen, schenkte Phoebes Stiefel keine weitere Beachtung. „Sie haben dabei immer unter schlimmen Schmerzen gelitten. Lassen Sie mich hierbleiben und Ihnen eine heiße Milch zubereiten.“
„Das ist es nicht“, sagte Deborah matt.
Lucy legte eine Hand flach auf die Tür und lehnte sich dagegen. „Das hier passt gar nicht zu dir. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, solltest du es uns lieber sagen.“
Es ist alles in Ordnung. Sie
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