Isle Royale - Insel des Schicksals (German Edition)
Heim bezeichnet. Das riesige Gebäude erinnerte viel mehr an eine öffentliche Einrichtung, wie beispielsweise eine Bibliothek oder ein Krankenhaus. Oder eine Irrenanstalt.
Diesen wenig loyalen Gedanken unterdrückend saß sie in der immer noch leicht schaukelnden Kutsche, während Jeremy die Stufen herabließ, die Tür öffnete und ihr eine Hand hinhielt. Heftige Windböen wehten welke Blätter über die Wege und gegen die Mauern.
Selbst durch ihre Handschuhe konnte sie spüren, dass Jeremys Hände eiskalt waren, und Deborah betrachtete ihn überrascht. Obgleich er sich bemühte, eine ausdruckslose Miene zu zeigen, lag um seinen Mund eine gewisse Anspannung, und er blickte immer wieder zum vom Feuer erhellten Himmel.
„Sie fahren besser gleich zu Ihrer Frau nach Hause“, sagte sie. „Sie wollen sich sicher davon überzeugen, dass es ihr gut geht.“
„Sind Sie sich sicher, Miss?“ Jeremy war sichtlich unwohl zumute. „Es ist meine Pflicht, hierzubleiben und …“
„Unsinn.“ Das war die eine Entscheidung, die sie heute Nacht zweifelsfrei allein treffen konnte. „Ihre erste Pflicht gilt Ihrer Familie. Gehen Sie schon. Ich würde mir die ganze Nacht Sorgen machen, wenn Sie nicht hinfahren.“
Er nickte ihr dankbar zu, und als er die schwere Eingangstür aufdrückte, schimmerte die Litze auf der zu seiner Livree gehörenden Schirmmütze in dem bedrohlichen Lichtschein am Himmel. Deborah betrat das Vestibül des Hauses, nahm die Pracht um sich herum wahr. Dienstboten eilten herbei, um sie in Empfang zu nehmen – drei Hausmädchen in Schwarz und Weiß, zwei Diener in marineblauer Livree, die stattliche große Haushälterin, der Butler wie stets würdevoll und gesetzt. Während sie durch das Spalier der Dienerschaft schritt, war die Begrüßung überaus respektvoll – niemand schaute ihr einfach ins Gesicht, niemand lächelte.
Arthur Sinclairs Bedienstete waren immer gut verpflegt und sauber und ordentlich gekleidet, und die meisten von ihnen waren sich auch des Umstandes durchaus bewusst, dass nicht alle Hausangestellten in Chicago in den Genuss einer solchen Grundversorgung kamen. Zu seiner ewigen Qual und Schande hatte Arthur Sinclair einmal selbst zu dieser Unterschicht gehört. Obwohl er nicht darüber sprach, verstand er die teilweise prekäre Lage der Unglücklicheren sehr gut.
Sie hoffte nur, er werde ebenso viel Verständnis für seine eigene Tochter aufbringen. Das brauchte sie jetzt nämlich.
„Ist mein Vater zu Hause?“, erkundigte sie sich.
„Gewiss, Miss. Oben in seinem Arbeitszimmer“, antwortete der Butler. „Möchten Sie, dass Edgar Sie ankündigt?“
„Das wird nicht nötig sein, Mr Marlowe. Ich werde mich direkt nach oben begeben.“ Sie ging an den schweigenden Dienern vorbei, überließ im Vorübergehen Hut und Handschuhe einem Hausmädchen. Sie spürte die unausgesprochenen Fragen, die ihr schlichtes Kleid, der einfache Schal und der wenig kunstvolle Zopf, zu dem sie ihr Haar geflochten hatte, aufwarfen. Die steife Atmosphäre war Deborah gewöhnt, aber sie hatte es nie besonders gemocht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Dienerschaft zu stehen. „Danke“, sagte sie. „Das ist dann alles.“
„Wie Sie wünschen.“ Marlowe verneigte sich und machte einen Schritt nach hinten.
Winkend und unter dem Klimpern des Schlüsselbundes an ihrer Taille entfernte die Haushälterin sich mit den restlichen Dienstboten. Durch die Türen, die sich kurz öffneten und rasch wieder schlossen, konnte Deborah sehen, dass Wertgegenstände in Kisten und Truhen verpackt wurden. Eine Vorsichtsmaßnahme wegen des Feuers vermutete sie.
Sie stand allein in dem hallenartigen Vestibül mit der Glaskuppel drei Stockwerke über ihr, und Deborah war sogleich und unerklärlicherweise kalt. Das Haus bestand aus einem endlosen Labyrinth aus Fluren und Zimmern – Salons und Gesellschaftsräumen, Musikzimmer, Gemäldegalerie, Speisezimmern, Ballsaal, Wintergarten und Gästezimmern. Sie hatte nie gezählt, wie viele Räume es waren. Das Haus war, in jeder Bedeutung des Wortes, das Denkmal eines Handelsfürsten; sein einziger Zweck bestand darin, der Welt zu verkünden, dass Arthur Sinclair da war.
Lieber Himmel, dachte Deborah, wann bin ich so zynisch geworden?
Dabei konnte sie sehr wohl den Augenblick benennen, in dem es geschehen war. Aber das war etwas, das sie nur sich selbst gegenüber eingestehen würde.
Wie durch einen feinen Schleier fiel das Licht der Gaslampen auf das
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