Isola - Roman
frisierte Mofas, Autos mit knatternden Motoren, die Skyline der Hochhäuser und Hotelburgen, moderne Banken, alte, sich duckende Kirchen, die im Sonnenlicht glänzende Niteroibrücke, im Hafen die riesigen Frachter und kleinen Fischerboote und an den sattgrünen Hügeln die endlosen Reihen der Baracken. Wie weit weg sie waren und wie schrecklich fremd sie mir vorkamen, diese aus Spanplatten, Wellblech und Pappe zusammengeschusterten Schuhkartons, in einem scheinbar wahllosen Wirrwarr übereinandergeworfen, als wären sie einem Riesen aus der Hand gefallen. Die Luft war ein drückendes Gemisch aus Smog, Meersalz und süßlichem Benzingeruch und sie vibrierte von den Stimmen der Menschen. Unzählige Menschen, überall, auf den Straßen und Gehwegen, auf der Promenade und an den Strandbuden. Mütter mit Babys, Geschäftsmänner in grauen Anzügen, Jogger in schrillen Lycra-Tops, dunkelhäutige Mädchen in winzigen Bikinis, schnorrende Bettler, junge Männer mit Trommeln, alte Männer mit klaffenden Zahnlücken, flirtende Pärchen, barfüßige Straßenkinder in gelb-grünen Trikots, die riesige Schubkarren voller Müll hinter sich herzogen oder am Strand Fußball spielten. Mitten auf einer Kreuzung stand eine große Tonschale mit Maismehl, einer Zigarre und daneben einer Flasche Schnaps – eine Opfergabe für Exú, den Torhüter und Götterboten des Candomblé-Kultes, dem sich auch mein brasilianischer Meister aus Deutschland zugehörig fühlte.
Und über allem schwebte Cristo, das Wahrzeichen Rios. Hoch oben auf seinem Berg, dem Corcovado, breitete er stumm seine steinernen Arme über der Stadt aus. Ich musste die Augen schließen und atmen und hoffen, dass die anderen mir nicht ansahen, wie mir zumute war.
Lange saß ich so da, meinen Kopf an den Rahmen der Hintertür gelehnt, bis ich plötzlich den Fahrer unseresWagens fluchen hörte. Kurz darauf bremsten wir, scharf und abrupt. Ich flog nach vorn und wurde gleich darauf wieder zurück in den Sitz geworfen. Neben mir keuchte Neander und vorne bellte Solos Hund.
»Was?«, rief Elfe. »Was ist passiert?«
Bei einem Auto vor uns war ein Reifen geplatzt, es schlitterte quer über die Fahrbahn und blieb liegen, während der Verkehr um uns herum hupend zum Stehen kam. Auch unser Fahrer drückte minutenlang auf seine Hupe, aber es war nichts zu machen. Die brütende Hitze, in der wir festsaßen, benebelte meine Sinne und es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, wo wir hier gelandet waren. Als ich zwischen Solo und dem Fahrer aus der Windschutzscheibe sah, presste ich beide Hände vor den Mund. Vor uns lag der Dois Irmaos , der Berg mit den zwei Hügelspitzen, die ihm seinen Namen gaben: zwei Brüder.
»Die Favela«, hörte ich Elfe sagen. »Liegt auf dem Berg da oben nicht dieses schreckliche Armenviertel mit den ganzen Drogendealern? Ich hab in einem Reiseführer gelesen, dass da sogar Touristenbusse hinfahren, das ist ja wohl das Letzte, findet ihr nicht? Obwohl ich schon gerne wissen möchte, wie die Menschen da oben leben. So was können wir uns ja gar nicht vorstellen. Seht mal, da ist einer von ihnen, ein Kind, oh Gott, wie süß … «
Auf der Straße, mitten im Stau zwischen den Autos, stand ein barfüßiger Junge, fünf, höchstens sechs Jahre alt. Er trug kurze Hosen und ein weißes, ölverschmiertes T-Shirt. In den Händen hielt er einen Karton mit Wasserflaschen. Er kam direkt auf uns zugelaufen. Vor meinem Fenster blieb er stehen, klopfte an die Scheibe und zog eine der Plastikflaschen aus seinem Karton hervor. Sein Gesicht verschwamm vor meinen Augen, weil mir die Tränen kamen. Meine Hand krallte sich an den Türgriff und mein Herz schlug, als wollte es aus meiner Brust springen und weglaufen, weg, weg, weg aus diesem Auto. Aber mein Körper war wie gelähmt und im nächsten Moment löste der Stau sich auf. Unser Fahrer gab Gas und der Junge verschwand aus meinem Sichtfeld. Dafür drehte sich Solo zu mir um. Unsere Blicke trafen sich und für eine endlose Sekunde hatte ich das Gefühl, er konnte direkt in mich hineinsehen. Dann schossen wir in das dunkle Loch des Tunnels, hinter dem wir immer am Strand entlang unter hellem Sonnenlicht nach Angra dos Reis, unserem Abfahrtshafen gelangten.
Drei
ES WAR früher Nachmittag, als ich hinter Elfe das Restaurant am Hafen betrat, vor dem uns der Fahrer abgesetzt hatte. Der große Raum mit den langen Holzbänken und Klapptischen, auf denen rot-weiß karierte Plastikdecken lagen, erinnerte mich an die
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