Isola - Roman
ich hatte das Foto meiner Schwester. Und auf der Rückseite war ihre Nummer.
Ich klemmte die Taschenlampe zwischen meine Knie, zerrte Esperanças Foto aus meiner Hosentasche und drückte die Ziffern, die auf der Rückseite standen, in die Tastatur ein. Eine fast heitere Leichtigkeit durchströmte mich. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, aber ich kam auch nicht dazu, denn gerade als ich die letzte Ziffer eingetippt hatte, zitterte meine Hand.
Nein – nicht meine Hand. Das Handy zitterte. Es vibrierte auf meiner Handfläche. Einmal, zweimal, dreimal …
Ich starrte es an, als wäre es eine tödliche Schlange.
Wie lange dauert es, bis man ein Handy von der Hand zum Ohr geführt hat? Wie viele Sekunden? Drei? Fünf?
Ich tat es. Ich hob das Handy zu meinem Ohr. Ich drückte den Knopf und hörte mich mit einer hohlen, fremden Stimme sagen: »Hallo.«
Die raue Stimme am anderen Ende klang, als wären wir alte Bekannte: »Hallo Vera. Oder soll ich lieber Joy sagen? Wie auch immer. Du brauchst dich nicht umzuschauen. Ich kann dich sehen, egal in welche Richtung du schaust. Wie ist es mit dir? Willst du mich auch sehen?«
Ich sagte nichts. Kein einziger Laut kam über meine Lippen. Ein leises Lachen am anderen Ende. »Es hat dir die Sprache verschlagen. Gut. Dann gib mir doch mal Solo. Oder … warte. Gib ihn mir nicht. Ich möchte ihn lieber persönlich kennenlernen. Ich bin ganz in der Nähe. Bei der Kapelle. Weißt du noch? Gleich bei dem Marienbild ist eine Klappe. Sie steht offen, ihr werdet sie nicht verfehlen. Hier ist es trocken. Ich mach uns einen Kaffee.« Die Stimme klang heiter, aber ich glaubte, ein Beben in dem vergnügten Tonfall mitschwingen zu hören. »Ach ja, und es ist noch jemand hier. Ein liebender Vater. Wenn Solo ihn wiedersehen möchte, dann würde ich dir raten, niemanden anzurufen. Kommt einfach rüber. Wir möchten euch einladen.« Wieder ein Lachen. »Zu einer kleinen, sagen wir, Familienfeier? Ich setz den Kaffee auf. Also dann. Bis gleich.«
Es klickte.
»WER?«, schrie Solo mir ins Gesicht. »Wer war das? Und was hat er zu dir gesagt?«
Ich schluckte, ich musste die Worte aus mir herauswürgen.
»Er hat gesagt, wir sollen kommen.«
Vierundzwanzig
DIE KLAPPE war leicht zu finden. Sie lag im hinteren Teil der Kapelle, gleich unter dem Marienbild, genau wie die Stimme am Telefon gesagt hatte. Sie stand offen, es war eine Stahlklappe, etwa einen Quadratmeter groß, mit einem Eisenriegel auf der Innenseite. Mephisto hatte aufgeregt zu bellen begonnen und sprang, ohne zu zögern, die Stufen der eingelassenen Treppe hinunter. Solo drehte sich zu mir um und ich nickte. Eine eisige Kälte hatte Besitz von mir ergriffen, es war eine innere Kälte, die aus meinen Knochen zu kriechen schien, feucht und klamm, aber ich holte tief Luft, fest entschlossen, der Panik nicht abermals die Oberhand zu geben. Wir hatten keine Wahl, wir mussten diesen Weg gehen.
Die Treppe führte in einen steinernen, von Neonlicht beleuchteten Flur. Mehrere Stahltüren gingen rechts und links davon ab. Ein unterirdischer Bunker, weit größer als der Raum unter dem Briefkasten, aber ebenfalls mit riesigen Versorgungsrohren, Kabeln und Leitungen ausgestattet. Aus irgendeiner Ferne dröhnte uns das Wummern eines Generators entgegen. Unsere zuckenden Schatten huschten über die Wände, sie waren uns immer einen Schritt voraus und Solo versuchte, die Türen zu öffnen, vergeblich, sie waren abgeschlossen. Nur eine – ganz am Ende des Ganges – stand einen Spaltweit offen. Mephisto war schon nicht mehr zu sehen, und als Solo die Tür jetzt ganz aufstieß, gab sie ein ächzendes Quietschen von sich. Wir traten in einen etwa fünfzehn Quadratmeter großen Raum, an dessen Decke eine nackte Glühbirne leuchtete. Auch dieser Raum war vollständig verkabelt, aber die Einrichtung war spartanisch. Mein Blick fiel auf ein Metallgestell mit einer Matratze, auf der ein Computerkabel und ein paar CD-Hüllen lagen. Auf dem Boden standen Flaschen, mehrere Gläser, über einem Stuhl hingen Shorts und in einem geöffneten Holzschrank sah ich ein paar weitere Kleidungsstücke. Die Luft war abgestanden, nur ein feiner Windzug hinter dem Schrank verriet, dass sich am anderen Ende des Raumes noch eine Tür verbergen musste. Solo zog mich weiter, und als ich hinter ihm in den zweiten Raum trat, sah ich zunächst nur ein bläuliches Licht, das von einem Laptop ausging. Der Geruch von Kaffee hing im Raum, aber darunter lag noch
Weitere Kostenlose Bücher