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Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Titel: Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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die Leiden eines falschen Schiedsspruchs auf. Aber mein Amt ist nicht leicht, im Dunkel zwischen den Handtellern werden verschiedene Kniffe angewendet, die ich nicht unbeachtet lassen darf, ich drücke deshalb das Kinn an den Tisch und nun entgeht mir nichts. Mein Leben lang habe ich die Rechte, ohne es gegen die Linke böse zu meinen, bevorzugt. Hätte doch die Linke einmal etwas gesagt, ich hätte, nachgiebig und rechtlich wie ich bin, gleich den Missbrauch eingestellt. Aber sie muckste nicht, hing an mir hinunter und während etwa die Rechte auf der Gasse meinen Hut schwang, tastete die Linke ängstlich meinen Schenkel ab. Das war eine schlechte Vorbereitung zum Kampf, der jetzt vor sich geht. Wie willst Du auf die Dauer, linkes Handgelenk, gegen diese gewaltige Rechte Dich stemmen? Wie Deine mädchenhaften Finger in der Klemme der fünf andern behaupten? Das scheint mir kein Kampf mehr, sondern natürliches Ende der Linken. Schon ist sie in die äusserste linke Ecke des Tisches gedrängt, und an ihr regelmässig auf und nieder schwingend wie ein Maschinenkolben die Rechte. Bekäme ich angesichts dieser Not nicht den erlösenden Gedanken, dass es meine eigenen Hände sind, die hier im Kampf stehn und dass ich sie mit einem leichten Ruck von einander wegziehn kann und damit Kampf und Not beenden – bekäme ich diesen Gedanken nicht, die Linke wäre aus dem Gelenk gebrochen vom Tisch geschleudert und dann vielleicht die Rechte in der Zügellosigkeit des Siegers wie der fünfköpfige Höllenhund mir selbst ins aufmerksame Gesicht gefahren. Statt dessen liegen die zwei jetzt übereinander, die Rechte streichelt den Rücken der Linken, und ich unehrlicher Schiedsrichter nicke dazu.
    Das offenbar abgeschlossene, jedoch titellose und von Kafka nicht veröffentlichte Prosastück findet sich im sogenannten ›Oktavheft D‹. Es entstand im April 1917 sehr wahrscheinlich in dem von seiner Schwester Ottla angemieteten Häuschen in der Alchimistengasse auf dem Prager Hradschin.
    Der letzte Satz lautete im Manuskript zunächst: »Statt dessen liegen die zwei jetzt übereinander, die Rechte streichelt den Rücken der Linken, dann wird das Buch wieder vorgenommen und einträchtig gehalten.«

55
    Die Ratte im Palais
Im Sommer einmal ging ich mit Ottla Wohnung suchen, an die Möglichkeit wirklicher Ruhe glaubte ich nicht mehr, immerhin ich ging suchen. Wir sahen einiges auf der Kleinseite an, immerfort dachte ich, wenn doch in einem der alten Palais irgendwo in einem Bodenwinkel ein stilles Loch wäre, um sich dort endlich in Frieden auszustrecken. Nichts, wir fanden nichts Eigentliches. Zum Spass fragten wir in dem kleinen Gässchen nach. Ja, ein Häuschen wäre im November zu vermieten. Ottla, die auch, aber in ihrer Art, Ruhe sucht, verliebte sich in den Gedanken, das Haus zu mieten. Ich in meiner eingeborenen Schwäche riet ab. Dass auch ich dort sein könnte, daran dachte ich kaum. So klein, so schmutzig, so unbewohnbar, mit allen möglichen Mängeln. Sie bestand aber darauf, liess es, als es von der grossen Familie, die drin gewohnt hatte, ausgeräumt war, ausmalen, kaufte paar Rohrmöbel (ich kenne keinen bequemeren Stuhl als diesen), hielt es und hält es als Geheimnis vor der übrigen Familie.
    Ab Ende November 1916 und den ganzen folgenden Winter nutzte Kafka das winzige von Ottla gemietete Häuschen in der Alchimistengasse auf dem Hradschin als Schreibstube. Dennoch suchte er weiter nach einer eigenen Wohnung und erhielt noch im November das Angebot, im Palais Schönborn auf der Kleinseite eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Bad zu übernehmen. Zunächst erschien ihm das als »die Erfüllung eines Traumes«, doch dann waren ihm die »überhohen kalten Zimmer zu prachtvoll« – es herrschte Kohlennot –, und er war auch nicht bereit, den geforderten Abstand von mehr als einer Jahresmiete zu zahlen. Im Frühjahr 1917 bezog er dann im selben Palais eine etwas weniger prächtige Wohnung, zu der allerdings ein wiederum »riesenhaft großes« Zimmer gehörte.

    Als Kafka seiner Schwester Ottla gleichsam zum Einstand ein Exemplar von Das Urteil auf dem Tischchen in der Alchimistengasse hinterließ, stand er noch ganz unter dem Eindruck der Räume im Palais Schönborn. Ottla war mit diesem Umstand natürlich vertraut, als sie die selbstironische Widmung las: »Meiner Hausherrin. Die Ratte vom Palais Schönborn. 24./XI 16«. Als sie stolz ihrem Geliebten davon berichtete, unterschlug sie jedoch die Ratte, die den gestrengen

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