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Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)

Titel: Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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durch und über alle Zuhörer hinauszurennen.

    Der Schriftsteller Bernhard Kellermann (1879–1951) ist heute vor allem als Autor des mehrfach verfilmten Science-fiction-Romans Der Tunnel (1913) in Erinnerung, eines der spektakulärsten Bucherfolge des frühen 20. Jahrhunderts. Zuvor war Kellermann eher als Verfasser impressionistisch getönter Prosa bekannt.
    Die Lesung in Prag, die Kafka wenige Stunden nach der Hochzeitsfeier seiner Schwester Elli vermutlich ohne Begleitung besuchte, fand am Sonntag, den 27. November 1910 um 17 Uhr im Spiegelsaal des Deutschen Kasinos statt. Bemerkenswert ist, dass er als einer der wenigen Zuhörer bis zum Ende ausharrte – offenbar in der für ihn charakteristischen Mischung aus Höflichkeit, Mitleid und Neugier. Seine Eindrücke notierte er noch am selben Abend.
    Die Besprechung Ludwig Steiners im Prager Tagblatt des folgenden Tages bestätigt im wesentlichen Kafkas Schilderung: »Leider hatte der Dichter den sonderbaren Ehrgeiz, ihre [der Zuhörer] Geduld auf eine ziemlich harte Probe zu stellen. Auf seinem Programm stand eine umfängliche Prosa-Arbeit, deren Vorlesung beträchtlich mehr als eine Stunde in Anspruch nahm. […] Daher kam es, daß nach einstündiger Lesung das Publikum zuerst tropfenweise aus dem Saal sickerte, dann in breiterem Fluß hinausströmte und der Schluß nur noch von einem Rest der Hörerschaft mit ehrerbietigem Applaus – wenn man so sagen darf – begrüßt wurde.«
    Bei der »Prosa-Arbeit« handelte es sich um die Erzählung Die Heiligen , die im Juni 1911 in der Neuen Rundschau publiziert wurde. Das von Kellermann als Zugabe gelesene Märchen Die Geschichte von der verlorenen Wimper der Prinzessin wurde erst 1979 aus seinem Nachlass veröffentlicht.

53
    Slapstick im Gericht
Man erzählt zum Beispiel folgende Geschichte, die sehr den Anschein der Wahrheit hat. Ein alter Beamter, ein guter stiller Herr, hatte eine schwierige Gerichtssache, welche besonders durch die Eingaben des Advokaten verwickelt worden war, einen Tag und eine Nacht ununterbrochen studiert – diese Beamten sind tatsächlich fleissig wie niemand sonst. Gegen Morgen nun, nach vierundzwanzigstündiger wahrscheinlich nicht sehr ergiebiger Arbeit, ging er zur Eingangstür, stellte sich dort in Hinterhalt und warf jeden Advokaten, der eintreten wollte, die Treppe hinunter. Die Advokaten sammelten sich unten auf dem Treppenabsatz und berieten, was sie tun sollten. Einerseits haben sie keinen eigentlichen Anspruch darauf, eingelassen zu werden, können daher rechtlich gegen den Beamten kaum etwas unternehmen und müssen sich, wie schon erwähnt, auch hüten, die Beamtenschaft gegen sich aufzubringen. Andererseits aber ist jeder nicht bei Gericht verbrachte Tag für sie verloren, und es lag ihnen also viel daran einzudringen. Schliesslich einigten sie sich darauf, dass sie den alten Herrn ermüden wollten. Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt, der die Treppe hinauf lief und sich dann unter möglichstem, allerdings passivem Widerstand hinunterwerfen liess, wo er dann von den Kollegen aufgefangen wurde. Das dauerte etwa eine Stunde, dann wurde der alte Herr, er war ja auch von der Nachtarbeit schon erschöpft, wirklich müde und ging in seine Kanzlei zurück. Die unten wollten es zuerst gar nicht glauben und schickten zuerst einen aus, der hinter der Tür nachsehn sollte, ob dort wirklich leer war. Dann erst zogen sie ein und wagten wahrscheinlich nicht einmal zu murren.
    Die Szene aus dem Roman Der Process ist eines der Beispiele dafür, dass Kafka auch in seinen vielfach als düster oder fatalistisch empfundenen Hauptwerken typische Motive des Slapstick einbaute, die er sehr wahrscheinlich dem frühen Stummfilm abgeschaut hatte. Derartige Szenen einer körperlich agierenden Komik gibt es auch im Verschollenen und selbst im Schloss -Roman, obwohl Kafka, als er dieses späte Werk verfasste, bei weitem nicht mehr so häufig ins Kino ging wie noch vor dem Krieg.

54
    Der Kampf der Hände
Meine zwei Hände begannen einen Kampf. Das Buch in dem ich gelesen hatte, klappten sie zu und schoben es bei Seite, damit es nicht störe. Mir salutierten sie und ernannten mich zum Schiedsrichter. Und schon hatten sie die Finger ineinander verschränkt und schon jagten sie am Tischrand hin, bald nach rechts bald nach links je nach dem Überdruck der einen oder der andern. Ich liess keinen Blick von ihnen. Sind es meine Hände, muss ich ein gerechter Richter sein, sonst halse ich mir selbst

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