Ivo Andric
Familie, von
Lottika hatte leiten lassen, der eigentlich nie jung gewesen war, zeigte sich
jetzt plötzlich als wahres Oberhaupt der Familie, voll weiser
Entschlossenheit, mit der Fähigkeit, die notwendigen Entscheidungen zu fällen,
und auch mit der nötigen Kraft, sie in die Tat umzusetzen. Er tröstete und
pflegte seine Schwägerin wie ein krankes Kind und sorgte für alle, so wie sie
es noch bis gestern getan hatte. Während der Feuerpause ging er in die Stadt
und holte aus dem verlassenen Hotel die notwendigen Nahrungsmittel, Sachen und
Kleider. Er fand irgendwo auch einen Arzt und brachte ihn zu der Kranken. Der
Arzt stellte bei der übermüdeten und gealterten Frau einen völligen
Nervenzusammenbruch fest und empfahl, die Kranke so schnell wie möglich außer
Reichweite der militärischen Operationen zu bringen, verschrieb einige Tropfen
und ging dann zu einem Verwundetentransport. Zahler ordnete mit den Militärbehörden
alles, um einen Wagen zu erhalten und die ganze Familie zunächst nach Rogatitza
und dann nach Sarajewo zu bringen. Man mußte nur ein bis zwei Tage warten, bis
sich Lottika wenigstens so weit gesammelt hätte, daß sie reisen konnte. Aber
Lottika lag wie gelähmt, weinte aus vollem Halse und redete in ihrer
bilderreichen und gemischten Sprache zusammenhanglose Worte äußerster
Verzweiflung, Angst und Abscheu. Um sie herum kroch auf dem nackten Fußboden
Deborahs unglücklicher Junge, sah der Tante neugierig ins Gesicht und rief sie
mit jenen unverständlichen Kehllauten, die Lottika so gut verstand, auf die sie
aber jetzt nicht antwortete. Sie wollte nichts zu sich nehmen und niemanden
sehen. Furchtbar litt sie unter sonderbaren Vorstellungen rein körperlicher
Unglücksfälle. Bald schien es ihr, als öffneten sich plötzlich die Dielen unter
ihr wie eine heimtückische Falle und als fiele sie zwischen ihnen hindurch in
unbekannte Tiefen und als besäße sie außer ihrem eigenen Geschrei nichts, womit
sie sich wehren und halten könnte. Bald kam sie sich groß, leicht und stark
vor, als hätte sie Siebenmeilenstiefel und starke Flügel und als liefe sie,
ähnlich dem Vogel Strauß, aber mit Schritten, die weiter reichten als von hier
nach Sarajewo. Flüsse und Meere spritzten unter ihren Füßen wie kleine Pfützen
auf, und Städte und Dörfer prasselten wie Kieselsteine und zerbrochenes Glas.
Davon klopfte ihr Herz und ihr Atem keuchte. Sie wußte nicht, wo dieser
beflügelte Lauf enden, noch wohin er sie führen würde, aber sie wußte, daß er
sie vor diesen scheinbar und tückisch zusammengelegten Brettern rettete, die
mit Blitzesschnelle unter ihr auseinanderfuhren. Sie wußte, daß sie das Land
hinter sich zurückließ, in dem nicht gut verweilen war, und daß sie die
schmutzigen Pfützen, Ansiedlungen und großen Städte überspringt, in denen die
Menschen einander mit Worten und Zahlen belogen; wenn aber die Worte
ausgespielt hatten und die Zahlen verwirrt waren, dann änderten sie plötzlich
das Spiel, wie ein Gaukler die Szene verwandelt, und brachten, entgegen allem,
was man sagte und rechnete, Kanonen und Gewehre und eine andere, neue Art von
Menschen mit blutunterlaufenen Augen hervor, mit denen es kein Verhandeln,
keine Abmachungen und keine Verständigung gab. Vor diesem Ansturm war sie
plötzlich nicht mehr der gewaltige und wilde, laufende Vogel, sondern eine
ohnmächtige, niedergeschlagene, arme alte Frau auf hartem Boden. Aber diese
Leute schwärmten zu Tausenden, zu Millionen; sie erschossen, erschlugen und
erwürgten alles der Reihe nach, sie vernichteten ohne Mitleid und Vernunft.
Einer von ihnen beugte sich über sie, sein Gesicht sah sie nicht, aber sie
fühlte, wie er ihr die Spitze des Bajonetts gerade in die Magengrube setzte,
dort, wo sich die Rippen teilen und der Mensch am empfindlichsten ist.
»Nein, neinnn! Nicht! Nicht! Rettet
mich!« Mit diesem Schrei erwachte Lottika und riß die Fransen von dem grauen,
leichten Schal, mit dem man sie zugedeckt hatte.
Der kleine Kretin hockte, an die
Wand gelehnt, und betrachtete sie mit seinen großen schwarzen Augen, in denen
mehr Neugierde als Furcht oder Mitleid lag. Aus dem anderen Zimmer stürzte
Minna herein, beruhigte Lottika, wischte ihr den kalten Schweiß von der Stirn
und gab ihr Wasser zu trinken, in das sie vorher sorgfältig Baldriantropfen
gezählt hatte.
Aber der lange Sommertag über der
grünen Senke schien so endlos, daß man vergaß, wann er angebrochen war, und
nicht daran dachte, daß er jemals
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