Ivo Andric
her seit alters Gevatterschaft verbindet. Von Sorgen um den Mann und
das verlassene Haus ist sie ganz niedergeschlagen. Sie ringt die Hände und
klagt und seufzt abwechselnd.
Michailo läßt sie nicht aus den
Augen und ist ständig in ihrer Nähe. Heute morgen hat er erfahren, daß man
Petar bei der Rückkehr aus Sarajewo als Geisel aus dem Zug geholt, nach
Wardischte gebracht und dort bei einem falschen Alarm versehentlich erschossen
hat. Das halten sie noch vor ihr geheim, und Michailo paßt auf, daß es ihr
niemand jäh und rücksichtslos mitteilt. Die Frau steht jeden Augenblick auf,
sie will in den Hof hinausgehen, um nach dem Okolischte zu schauen, aber
Michailo hält sie auf und überredet sie auf alle mögliche Art, denn er weiß
gut, daß das Anwesen der Gatalos auf dem Okolischte schon brennt, und will der
unglücklichen Frau wenigstens dieses Schauspiel ersparen. Er scherzt und
lächelt und bietet unaufhörlich an.
»Komm, Gevatterin Stanujka, komm
mein Lämmchen. Nur ein Gläschen. Das ist ein Labetrunk und Sorgenbrecher und
kein gewöhnlicher Raki.«
Und die Frau trinkt gehorsam.
Michailo bietet der Reihe nach an. Mit seiner unwiderstehlichen und
unermüdlichen Herzlichkeit zwingt er jeden, sich zu stärken. Dann kehrt er
wieder zu Petar Gatalos
Frau zurück. Jener schmerzhafte Knoten in ihrem Halse hat sich wirklich gelöst.
Jetzt ist sie ruhiger; sie blickt nur nachdenklich vor sich hin. Aber Michailo
verläßt sie nicht, sondern erzählt ihr wie einem Kinde, daß alles vorübergeht,
daß ihr Petar heil und gesund aus Sarajewo zurückkehren und sie alle wieder in
ihr Haus auf dem Okolischte ziehen werden.
»Ich kenne den Petar, ich war doch
bei seiner Taufe dabei. Von dieser Taufe hat man lange erzählt. Und ich weiß es
noch wie heute: ich war ein junger Bursche und ging auf Freiersfüßen, als ich
mit meinem verstorbenen Vater, der bei Jankos Kindern Pate stand, auf den
Okolischte ging, um deinen Petar zu taufen. «
Und er erzählte die Geschichte von
Petar Gatalos Taufe, die sie alle kennen, die ihnen aber in diesen
ungewöhnlichen Nachtstunden wie neu erscheint.
Die Männer und Frauen rücken näher
heran, lauschen und vergessen beim Lauschen die Gefahr und achten nicht auf den
Geschützdonner. Michailo aber erzählt.
In den guten Friedenszeiten, als der
berühmte Pope Nikola noch Pfarrer in Wischegrad war, da ward dem Janko Gatalo
vom Okolischte nach langen Jahren der Ehe und nach einer ganzen Reihe voh
Mädchen noch ein Sohn geboren. Gleich am nächsten Sonntag trugen sie das Kind
zur Taufe, und außer dem glücklichen Vater gingen noch einige Verwandte und
Nachbarn mit. Schon auf dem Weg vom Okolischte herunter machten sie oft halt
und tranken aus der großen Flachflasche des Paten einen tüchtigen Schluck
scharfen Raki. Und als sie auf dem Wege über die Brücke zur Kapija gekommen
waren, setzten sie sich dort nieder, um ein wenig zu verschnaufen und noch
einen Schluck zu nehmen. Es war ein kalter Tag und spät im Herbst, auf der
Kapija war kein Kaffeeverkäufer mehr, und auch die Wischegrader Türken kamen
nicht, um Kaffee zu trinken und hier zu sitzen. Also ließen sich die vom
Okolischte häuslich nieder, öffneten die Taschen, in denen sie das Essen
trugen, und nahmen einen neuen Schluck Raki. Und wie sie so einander wortreich
und von Herzen zutranken, da vergaßen sie das Kind und den Pfarrer, der es nach
dem Gottesdienst taufen sollte. Weil zur damaligen Zeit, unter der
Türkenherrschaft – in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts –, die Kirche
noch keine Glocke hatte und auch keine haben durfte, so merkten die fröhlichen
Leute nicht einmal, daß die Zeit verging und der Gottesdienst längst vorüber
war. In ihren Gesprächen, in denen sich kühn und weitschweifig die Zukunft des
Kindes mit der Vergangenheit der Eltern mischte, war die Zeit nicht wichtig
und abgemessen. Ein paarmal schlug dem Paten das Gewissen, und er mahnte zum
Aufbruch, aber die übrigen beschwichtigten ihn sofort.
»Kommt, Leute, wir müssen
weitergehen, damit wir noch schaffen, was Gesetz und christliche Ordnung
fordern«, stotterte der Pate.
»Herrgott, was hast du es denn so
eilig, in unserem Sprengel ist noch keiner ungetauft geblieben«, antworteten
die anderen und boten ihm jeder aus seiner Flasche an.
Auch der Vater trieb eine Zeitlang
zum Aufbruch, aber der Raki ließ die Gewissensbisse schließlich verstummen und
machte sie alle einig. Die Frau, die bis dahin das Kind in ihren
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