Ivo Andric
Einzelheiten, die er schon längst vergessen hatte.
Er erinnerte sich, wie er als
vierzehnjähriger Junge in zerlumpten Opanken und hungrig aus dem Sandschak
gekommen war. Er hatte sich bei Kaufmann Petar verdingt, für ein Kleid, Nahrung
und zwei Paar Opanken jährlich zu dienen. Er hatte die Kinder getragen, im
Laden geholfen, Wasser geholt, die Pferde gestriegelt. Und geschlafen hatte er
unter der Treppe, in einem engen und finsteren Verschlag ohne Fenster, in dem
er sich nicht einmal ganz ausstrecken konnte. Er hatte dieses schwere Leben
ausgehalten und war in seinem achtzehnten Jahre völlig in das Geschäft
übergegangen, »gegen Gehalt«, und an seine Stelle war ein neuer Bauernjunge aus
dem Sandschak getreten. Damals hatte er den großen Sinn der Sparsamkeit
erkannt und sich zu eigen gemacht, er hatte die scharfe, aber herrliche Lust
und große Kraft empfunden, die Sparsamkeit gibt. Fünf Jahre lang hatte er in
einem kleinen Zimmerchen hinter dem Laden geschlafen. In diesen fünf Jahren
hatte er sein Zimmer nie geheizt und war nie bei Licht schlafen gegangen. Als
er dreiundzwanzig Jahre alt war, hatte ihn Kaufmann Petar persönlich mit einem
guten und wohlhabenden Mädchen aus Tschajnitsche verheiratet. Auch sie war
eine Kaufmannstochter. Nun hatten sie zu zweit gespart. Damals war die
österreichische Besatzung gekommen und mit ihr lebhafterer Handel und
leichterer Verdienst, aber auch mit leichterem Geldausgeben. Er hatte die Verdienstmöglichkeit
genützt und das Geldausgeben vermieden. So hatte auch er ein Geschäft eröffnet
und begonnen, zu verdienen. Damals war es nicht schwer gewesen, zu verdienen.
Viele hatten damals leicht verdient und noch leichter verloren. Es war aber schwer
gewesen, das Erworbene zu verteidigen. Er hatte es verteidigt und es mit jedem
Tage von neuem erworben. Und als diese letzten Jahre und mit ihnen Unruhe und
»Politik« gekommen waren, da hatte er, schon bei Jahren, alles getan, um die
neue Zeit zu erfassen, sich ihr entgegenzustellen und sich ihr anzupassen, um
sie so ohne Schaden und ohne Schande zu überstehen. Er war Vizebürgermeister,
Vorsteher der Kirchengemeinde, Vorsitzender des serbischen Gesangsvereins
»Einigkeit«, Hauptaktionär der Serbischen Bank und Mitglied des Aufsichtsrates
der Landbank geworden. Er hatte sich gemüht, nach den Regeln der bürgerlichen
Ordnung und Sitte klug und mit Anstand zwischen den Gegensätzlichkeiten
hindurchzusteuern, die sich mit jedem Tage anhäuften und wuchsen, und seine
Interessen durch alle diese Schwierigkeiten hindurchzulavieren, ohne dabei die
Obrigkeit zu verärgern oder sich vor dem Volke mit Schande zu bedecken. In den
Augen aller Wischegrader galt er als ein unerreichtes Beispiel des Fleißes,
der Geschicklichkeit und der Vorsicht.
Über ein halbes Menschenalter hatte
er so gearbeitet, erworben, sich gemüht und darauf geachtet, keinem auch nur
ein Haar zu krümmen, sich vor jedem gebeugt, nur vor sich geblickt und war
schweigend und verdienend seinen Weg gegangen. Und dahin hatte ihn nun dieser
Weg geführt: daß er wie ein ganz gewöhnlicher Räuber zwischen zwei Soldaten saß
und wartete, bis eine Granate oder irgendeine Höllenmaschine die Brücke
beschädigte und man ihn deswegen erschlagen oder erschießen würde. Es kam ihm
der Gedanke – und das schmerzte ihn am meisten –, daß er sich vergeblich gemüht
und geplagt habe, daß er überhaupt auf dem falschen Weg gewesen sei und daß
seine Söhne und das übrige »junge Volk« recht behalten hätten, daß wirklich
Zeiten ohne Maß und Ziel oder mit neuen Maßen und neuen Zielen gekommen seien;
auf jeden Fall aber, daß sich seine Rechnung als falsch und sein Maß als zu
kurz erwiesen habe.
So ist das, sagte Kaufmann Pawle zu
sich, so ist das nun: alles lehrt und drängt dich zum Arbeiten und Sparen, die
Kirche, Obrigkeit und deine eigene Vernunft. Und du hörst darauf, bist
vorsichtig und lebst rechtschaffen, besser gesagt, du lebst überhaupt nicht,
sondern arbeitest, sparst und sorgst dich, und darüber vergeht dein Leben. Und
dann schlägt plötzlich dieses ganze Spiel in sein Gegenteil um, es kommen
Zeiten, da die Menschen der Vernunft spotten, die Kirchen sich schließen und
verstummen und die Obrigkeit sich in nackte Gewalt verwandelt, da diejenigen,
die ehrlich und sauer erworben haben, verlieren, die Taugenichtse und
Gewalttätigen aber gewinnen. Niemand erkennt deine Anstrengungen an, und keiner
ist da, der dir hilft und rät, wie du das Erworbene
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