Ivo Andric
aufgebaut worden war. Solange, bis ein
»Etwas« aus dem Wasser zu sprechen anhob und dem Baumeister Rade riet, zwei
unmündige Kinder, Zwillinge, Bruder und Schwester, namens Stoja und Ostoja (Halte
und Bleibe) zu suchen und in den Mittelpfeiler der Brücke einzumauern. Sofort
begann man, in ganz Bosnien nach solchen Kindern zu suchen. Eine Belohnung
wurde für den ausgesetzt, der sie finden und herbeischaffen würde.
Schließlich fanden die Sejmen 1 in einem entfernten Dorf die Zwillinge an der Mutterbrust und nahmen sie im
Namen des Wesirs mit sich, aber als sie sie wegtrugen, wollte sich die Mutter
nicht von ihnen trennen und wankte, wehklagend und weinend, unempfindlich
gegen Flüche und Stöße, hinter ihnen her bis nach Wischegrad. Dort gelang es
ihr, sich vor den Baumeister zu drängen.
Die Kinder wurden eingemauert, denn
es konnte nicht anders sein. Aber der Baumeister – so sagt man – empfand
Mitleid und ließ in dem Pfeiler Öffnungen, durch die die unglückliche Mutter
ihre geopferten Kinder stillen konnte. Das sind die schön ausgehauenen blinden
Fenster, eng wie Schießscharten, in denen jetzt die Wildtauben nisten. Zur
Erinnerung daran fließt schon seit Jahrhunderten Muttermilch aus dem Gemäuer.
Das sind jene weißen Rinnsale, die zu gewissen Jahreszeiten aus den makellosen
Fugen herausträufeln und deren unverwischbare Spur auf dem Stein zurückbleibt.
(Die Vorstellung von Frauenmilch erweckt im kindlichen Bewußtsein etwas, das
ihnen gleichzeitig zu nahe und fast peinlich und ebenso unklar und
geheimnisvoll ist wie Wesire und Baumeister und das sie verwirrt und
erschreckt.) Diese milchigen Spuren auf den Pfeilern verreiben die Leute und
verkaufen sie als Heilpulver an Frauen, die nach der Niederkunft keine Milch
haben.
Im Mittelpfeiler der Brücke, unter
der Kapija, ist eine größere Öffnung, eine enge, aber hohe Tür ohne Füllung,
wie eine riesige Schießscharte. In diesem Pfeiler, heißt es, ist ein großes
Zimmer, ein dunkler Raum, in dem der Schwarze Mann lebt. Das wissen alle
Kinder. In ihren Träumen und Schwindelgeschichten spielt er eine große Rolle.
Wem er sich zeigt, der muß sterben. Kein Kind hat ihn bis jetzt gesehen, denn
Kinder sterben nicht. Aber gesehen hat ihn eines Nachts Hamid, jener kurzatmige,
ewig betrunkene oder verkaterte Lastträger mit den entzündeten Augen, und noch
in der gleichen Nacht starb er, dort neben der Mauer. Übrigens war er sinnlos
betrunken und hatte bei fünfzehn Grad Kälte unter freiem Himmel auf der Brücke
genächtigt. In diese dunkle Öffnung sehen die Kinder oft vom Ufer wie in einen
Abgrund, der gleichzeitig Furcht einflößt und anzieht. Sie verabreden sich,
alle unverwandt hinzusehen, und wer zuerst etwas erschaue, der solle rufen.
Sie starren alle in den breiten, dunklen Riß, zitternd vor Neugierde und
Furcht, bis es irgendeinem empfindsamen Kinde scheint, als finge die Öffnung
an, sich wie ein schwarzer Vorhang zu be wegen und zu verschieben, oder bis
einer jener spottlustigen und rücksichtslosen Spielkameraden (deren es immer
einen gibt) »der Schwarze Mann« schreit und tut, als wolle er fortlaufen. Das
verdirbt das Spiel und ruft Enttäuschung und Unmut bei denen hervor, die das
Spiel der Phantasie lieben, die Ironie hassen und glauben, mit geduldigem
Hinschauen könne man wirklich etwas sehen und erleben. Und nachts, im Schlaf,
ringen und kämpfen manche von ihnen mit diesem Schwarzen Mann aus der Brücke
wie mit dem Schicksal, bis die Mutter sie weckt und aus dem quälenden Traum
erlöst. Und während sie den Jungen kaltes Wasser trinken läßt (»um den Schreck
zu verjagen«) und nötigt, den Namen Gottes auszusprechen, schläft er schon
wieder, müde vom Tagesspiel, den festen kindlichen Schlaf, in dem Ängste noch
nicht Fuß fassen können und nicht lange andauern.
Oberhalb der Brücke sieht man an dem
steilen Ufer aus grauem Kalkstein auf beiden Seiten runde Vertiefungen, immer
zwei und zwei, in regelmäßigen Abständen, als seien die Hufspuren eines Pferdes
übernatürlicher Größe in den Stein gemeißelt. Sie kommen oben von der alten
Burg, senken sich den Abhang zum Ufer hinab und tauchen am anderen Ufer wieder
auf, wo sie sich in der braunen Erde und im Pflanzenwuchs verlieren.
Die Kinder, die an diesem steinigen
Ufer im Sommer den ganzen Tag lang kleine Fische fangen, wissen, daß das
Spuren aus alten Zeiten und von alten Kriegern sind. Damals lebten auf Erden
große Helden, der Stein war noch unreif und weich wie
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