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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Nahrung
und neue Räume findet, wo aber auch schon die Sorgen, Kämpfe und Geschäfte des
Lebens beginnen.
    An der Kapija und um die Kapija
erleben sie die ersten Liebesschwärmereien, erste Blicke treffen sich im
Vorübergehen, erste Zurufe und erstes Geflüster. Hier spielen sich auch die
ersten Handelsgeschäfte ab, die ersten Streitereien und Verabredungen, die
ersten Zusammenkünfte und das erste Warten. Hier auf der steinernen Brüstung
der Brücke werden die ersten Kirschen und Melonen verkauft,der morgendliche
Trank, der Salep 3 ,
und warme Brötchen. Aber hier versammeln sich auch Bettler, Lahme und Kranke,
ebenso wie die Jungen und Gesunden, die sich zeigen oder andere suchen wollen,
wie auch alle, die irgend etwas Besonderes an Früchten, Kleidung oder Waffen
vorzuweisen haben. Oft setzen sich hier die reifen, angesehenen Männer nieder,
um über öffentliche Angelegenheiten und gemeinsame Sorgen zu beraten, aber noch
häufiger die jungen Burschen, die nichts als Scherze und Lieder im Kopf haben.
Hier werden bei großen Ereignissen und historischen Veränderungen die Bekanntmachungen
und Aufrufe angeschlagen (an jener erhöhten Wand, unter der Marmorplatte mit
der türkischen Inschrift, über dem Quell), aber hier wurde auch, noch bis 1878,
gehängt, oder es wurden die Köpfe aller derer aufgespießt, die aus irgendeinem
Grunde hingerichtet wurden; und solcher Hinrichtungen gab es in dieser Stadt an
der Grenze, besonders in unruhigen Jahren, viele; zu manchen Zeiten, wie wir
noch sehen werden, sogar täglich.
    Keine Hochzeit und keine Beerdigung
kann über die Brücke, ohne bei der Kapija haltzumachen. Hier ordnen sich
gewöhnlich die Hochzeitszüge, ehe sie zum Marktplatz weiterziehen. Sind die
Zeiten ruhig und sorglos, dann trinken sie eine Runde Raki und fangen an zu
singen und tanzen einen Kolo, und oft halten sie sich viel länger auf, als sie
es eigentlich wollten. Und bei einer Beerdigung setzen die Träger, um sich
auszuruhen, gewöhnlich den Toten einen Augenblick hier bei der Kapija ab, wo er
ja auch einen guten Teil seines Lebens verbracht hat.
    Die Kapija ist der wichtigste Teil
der Brücke, so wie die Brücke der wichtigste Teil der Stadt ist, oder wie es
ein türkischer Reisender, den die Wischegrader gut bewirtet hatten, in seinem
Reisebuch niederschrieb: »Ihre Kapija ist das Herz der Brücke, und die ist das
Herz dieser Stadt, die jedem im Herzen bleiben muß.« Sie zeigt, wie sehr die
alten Baumeister, von denen man erzählt, sie hätten mit Vilen und dunklen
Mächten Umgang gehabt und sogar Kinder lebendig einmauern müssen, einen Sinn
nicht nur für Beständigkeit und Schönheit eines Baues hatten, sondern auch für
den Nutzen und die Bequemlichkeit, die dieses Bauwerk noch den fernsten
Geschlechtern bieten würde. Und wenn man das hiesige Leben kennt und gut
darüber nachdenkt, dann muß man sich eingestehen, daß nur wenige Menschen in
diesem Bosnien eine solche Bequemlichkeit und einen solchen Genuß haben, wie
ihn jeder, auch der letzte Städter, auf der Kapija haben kann.
    Natürlich zählt der Winter nicht,
denn dann geht nur, wer muß, über die Brücke, aber auch der beschleunigt seine
Schritte und beugt den Kopf unter dem kalten Wind, der ständig über dem Fluß
weht. Dann verweilt selbstverständlich niemand auf den offenen Terrassen der
Kapija. Aber zu jeder anderen Jahreszeit ist die Kapija ein wahrer Segen für
groß und klein. Da kann jeder hiesige Städter, zu jeder Tages- und Nachtzeit,
auf die Kapija gehen und sich auf das Sofa setzen oder zu Geschäft oder
Unterhaltung bei ihr verweilen. Hinausragend und einige fünfzehn Meter hoch
über dem grünen, rauschenden Fluß schwebt dieses steinerne Sofa im Raum über
dem Wasser, von dunkelgrünen Bergen auf drei Seiten umschlossen, über sich den
Himmel mit seinen Wolken oder den Sternen und mit offenem Blickfeld den Fluß
hinab, über das enge Amphitheater dieser Gegend, das die blauen Berge in der
Tiefe abschließen.
    Wieviel Wesire und Reiche gibt es
auf der Welt, die ihre Freude oder Sorge oder ihre Lust und Muße auf einen
solchen Ort hinaustragen können? Wenige, sehr wenige. Und wie viele von uns
haben im Laufe der Jahrhunderte in der Reihe der Geschlechter den Morgen, das
Abendgebet versessen oder die Nachtstunden, während unmerklich das Bestirnte
Gewölbe zu Häupten sich weiterbewegte. Unzählige von uns haben dort gesessen,
den Kopf in die Hände gestützt, angelehnt an den behauenen glatten Stein und
unter dem

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