Mitternachtsfantasie
1. KAPITEL
D ie Gasse zwischen der Fourth Street und dem Beauregard Boulevard war nicht gerade der beste Ort in Tulip, Georgia, für eine Autopanne.
Tyler Savage lag unter seinem Wagen und fluchte über sein Pech und das schwache Licht. Und weil er sich so darauf konzentrierte, das Leck zu finden, aus dem das Öl tropfte, registrierte er die schnellen Schritte erst, als es fast zu spät war.
Er drehte sich auf die Seite und stellte fest, dass es sich um eine Frau handelte, die die Gasse entlanglief. Aus seiner Position konnte er sie nicht vollständig sehen, aber er bemerkte ihre außerordentlich langen Beine, die in einer grauen Jogginghose steckten, ihre schlanke Figur und ihre Brüste, die bei jedem Schritt verlockend wippten.
Tyler stieß einen anerkennenden Pfiff aus und grinste, als die Frau daraufhin stehen blieb. Doch bevor er unter dem Auto hervorkommen und sich vorstellen konnte, landete ein dicker Öltropfen auf seiner Nase und lief ihm in die Augen.
„Mist!“
Er griff nach einem Lappen und wischte sich Augen und Hände ab, während er unter dem Wagen herausrutschte, doch es war zu spät. Die Frau war verschwunden. Tyler fluchte leise und trat frustriert gegen einen Hinterreifen. Dann trottete er zu Raymond Earl Showalters Haus einige Straßen weiter. Raymond Earl führte die einzige Autowerkstatt in Tulip.
Tyler überlegte, wer die Frau gewesen sein mochte. Sie ähnelte keiner, die er kannte. Falls er sich eben nicht nur etwas eingebildet hatte, war eine neue Frau in der Stadt.
Während Tyler bei Raymond Earl Hilfe suchte, saß Amelia Beauchamp zusammengekauert auf dem Vordersitz von Raelene Stringers altem Wagen und hoffte, dass die Begegnung von vorhin keine Folgen haben würde.
Sie war kurz davor gewesen, aufzufliegen – zum ersten Mal, seit sie ihr Doppelleben führte. Doch am beängstigendsten war die Tatsache, dass es ausgerechnet Tyler Savage war, der sie beinah erwischt hätte.
Amelias Herz schlug immer noch heftig, als sie sich aufrichtete, um ihre Frisur zu richten und Make-up aufzulegen. Bei dieser Tätigkeit, die ihr inzwischen vertraut war, entspannte sie sich langsam.
Tyler Savage war der begehrteste Junggeselle von Tulip und ein großer Herzensbrecher. Dennoch hatte sie schon immer eine Schwäche für ihn gehabt. Dummerweise war sie ganz und gar nicht sein Typ. Amelia seufzte, als sie sich im Spiegel betrachtete. Nein, sie war gewiss nicht Tylers Typ, aber Amber schon. Wenn sie sich nur trauen würde, immer so wie Amber zu sein …
Mitternacht war lange vorüber, als Amelia sich ins Haus ihrer Tanten zurück schlich. Sie verschloss die Tür und seufzte vor Erleichterung.
Eine weitere Nacht voller Heimlichtuerei lag hinter ihr, und ihr blieben nur noch wenige Stunden Schlaf, bis sie wieder aufstehen musste. Als sie die Treppe hinaufging, achtete sie darauf, nicht auf die Stufe treten, die immer knarrte.
Das schöne Gesicht, das Amelia aus dem Spiegel ihrer Frisierkommode anstarrte, hätte ihre Tanten schockiert. Amelia beugte sich vor und nahm die Rubinohrringe ab. Dann bürstete sie ihr dichtes kastanienbraunes Haar und flocht es zu einem Zopf. Schließlich entfernte sie das Make-up. Die verräterischen Abschminktücher spülte sie die Toilette hinunter. In diesem Haus durfte nichts an Amber erinnern. Hier lebte Amelia.
Als sie den Jogginganzug auszog und hinten in ihren Schrank stopfte, hörte sie draußen eine Eule rufen – die einzige Zeugin ihres Doppellebens. Amelia zog ihr Nachthemd an und genoss den vertrauten Stoff auf ihrer Haut, der sich so sehr von dem roten Satin unterschied, den sie als Amber bei der Arbeit trug.
Sobald ihr Kopf das Kissen berührte, fielen ihr die Augen zu. Sie seufzte noch und schlief tief und fest, bis sie Tante Wilheminas Stimme am Morgen hörte.
„Amelia! Zeit zum Aufstehen! Du kommst zu spät zur Arbeit.“
Amelia stöhnte und rollte sich aus dem Bett. Es war ihre eigene Schuld, dass sie sich so schlecht fühlte, doch wenn ihr Plan funktionierte, war es das wert.
Als sie damals zu ihren Tanten Wilhemina und Rosemary Beauchamp gekommen war, war sie ein dünnes, zu groß geratenes neunjähriges Mädchen gewesen. Die beiden Tanten waren ihre einzigen lebenden Verwandten, nachdem ihre Eltern bei einem Erdbeben in Mexiko ums Leben gekommen waren, wo sie als Missionare gearbeitet hatten.
Amelia war daran gewöhnt gewesen, viel herumzureisen und ständig neue Sitten kennenzulernen. Deshalb war es ein Schock für sie, bei ihren
Weitere Kostenlose Bücher