Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
nicht für Elftklässlerinnen. Und schon gar nicht für welche, die von einer langen Autofahrt zerknautscht waren und mit ihrer buckligen Verwandtschaft rumhingen. Lily öffnete den Mund und wollte ihre Mutter fragen, ob sie auch der Meinung sei, der Junge sähe zu ihr herüber. Doch dann hielt sie inne. Mom könnte seine Frisur gefallen. Lily hatte nicht die geringste Lust, das Reunions Weekend mit der Suche nach orange-schwarzer Haarfarbe zu vergeuden.
Also folgte sie ihrer Mutter und ihrem Großvater nach drinnen. Augenblicklich hatte sie den Jungen mit dem Tigerhaar vergessen. Sie war in Vineyard Club! Gespannt blickte sie sich um, als müsste sie sich jedes einzelne Detail für immer einprägen.
Der Schankraum von Vineyard Club fühlte sich alt an. Aber es war eher das Alt eines vorzüglich gelagerten Qualitätsweins als das eines alten Hauses mit ewig kaputten Wasserleitungen. Schwarz-Weiß-Fotos von Männern in Anzug und Krawatte (und, auf den neueren, auch Frauen) schmückten die holzgetäfelten Wände. Lily betrachtete das Bild, das ihr am nächsten hing, und stellte sich selbst in der Gruppe der Studenten vor.
Jetzt übertreib mal nicht, schalt sie sich. Sie hatte keine Ahnung, ob die Uni sie überhaupt aufnehmen würde, von dem mega-exklusiven Vineyard Club ganz zu schweigen. Was, wenn ihnen das B in Geschichte auffiel, das sie sich in der Neunten geleistet hatte? Was, wenn sie nicht genügend außerschulische Aktivitäten nachweisen konnte? Eigentlich fand sie ihre Liste ganz in Ordnung: Sekretärin des Schülerrates (aber nie Vorsitzende), zweimal im Chor für die Schulaufführung (aber nie die Hauptrolle), Teilzeitjob in Großvaters Blumenladen (ohnehin obligatorisch), ein Jahr Tap Dance (großer Fehler), gelber Gürtel in Taekwondo (Großvaters Idee nach dem Tap-Dance-Fiasko), Catcherin der Softballmannschaft ihrer Schule … Vielleicht hätte sie noch mehr tun müssen. Wenigstens einen zusätzlichen College-Vorbereitungskurs hätte sie noch irgendwo dazwischenquetschen sollen. Oder dem Debattierclub beitreten. Oder das Allheilmittel gegen Krebs finden.
Grandpa führte sie über den leicht klebrigen Fußboden zu einer Treppe. »Wir sind auf einem Hügel, also ist der Schankraum eigentlich der Keller«, erklärte er. »Der Rest des Clubs befindet sich oben.«
Die hölzernen Stufen waren hundert Jahre lang von unzähligen Füßen ausgetreten worden. An der Wand hingen noch mehr Fotos. Mom hielt auf der vierten Stufe inne. »Du bist es und bist es auch wieder nicht«, murmelte sie geheimnisvoll.
Lily erstarrte. Bitte, nicht schon wieder ein Hirnhickser. Die schienen sich in letzter Zeit zu häufen. »Alles in Ordnung, Mom?«
Grandpa machte kehrt und kam noch einmal zu ihnen herunter. »Komm, Rose«, sagte er sanft, löste ihre Finger behutsam von einem der Fotos und führte sie weiter die Treppe hoch. Er sah Lily nicht an.
Vielleicht war es ja auch kein Hickser gewesen. Manchmal ließ sich nur schwer sagen, ob Mom sich mutwillig rätselhaft gab oder wirklich verrückt war. Bitte, reiß dich zusammen. Wenigstens, solange wir hier im Club sind!, flehte Lily sie im Geiste an, während sie den beiden folgte.
Oben warfen Bleiglasfenster rote, grüne und goldene Schatten auf Ledersofas und Stühle mit hohen Lehnen. Den Fußboden bedeckte ein orientalischer Teppich, der an einigen Stellen bis auf die Kettfäden abgetreten war. Sie zeichneten sich inmitten des verblichenen, einstmals purpurroten Gewebes ab wie bräunliche Narben.
Ein Ende des Raumes nahm ein steinerner Kamin mit einem gewaltigen Sims aus Marmor ein, flankiert von einem Ölgemälde und einer cremeweiß gestrichenen Tür. Auf der gegenüberliegenden Seite, neben dem Durchgang zum Billard-zimmer, stand ein schwarzglänzender Flügel. Das Ganze wirkte sehr eindrucksvoll und sehr …
»Tot«, sagte Mom, als würde sie Lilys Gedankengang vollenden. »Hier muss Sonne rein. Frische Luft!« Sie wedelte mit den Händen zu den Bleiglasfenstern hinüber.
Eine neue Stimme sprach. »Aber dann würden wir doch unserer so sorgfältig kultivierten Aura des Altbackenen verlustig gehen.« Alle drei drehten sich gleichzeitig um. Ein älterer Gentleman betrat den Raum. »Gentleman« war genau die richtige Bezeichnung. Er trug ein tadellos gestärktes, sündhaft teures Hemd und einen akribisch gestutzten Bart und wirkte wie jemand, der gefesselt und mit verbundenen Augen eine Salatgabel erkennen würde.
»Joseph!« Grandpa ließ das Gepäck zu Boden
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