Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
und vor ihr hockte, in Jeans und schwarzem T-Shirt, Tye. »Immer«, erwiderte er und stand auf.
Lily warf ihm die Arme um den Hals und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Einen Augenblick lang hielt er sie nur fest. Dann begann er, ihr sanft übers Haar zu streicheln.
»Ich hab’s vermasselt«, murmelte Lily in sein T-Shirt. »Ich hab’s echt versaut.« Sie hätte Mr Mayfair nicht trauen dürfen. Sie hätte schnurstracks nach Vineyard Club gehen müssen und … und dann was? Sie hätte den Legacy Test abbrechen sollen. Sie hätte sich ein anderes verdammtes College aussuchen sollen.
Tye gab keinerlei Plattitüden von sich wie »Alles wird gut« oder »Es ist nicht deine Schuld«. Er hielt sie einfach in den Armen und strich ihr weiter übers Haar. Sie hob den Kopf und sah ihm in die goldbraunen Augen. Seine Lippen waren nur Zentimeter von ihren entfernt.
Lily presste ihren Mund auf seinen. Tye riss erstaunt die Augen auf, dann erwiderte er den Kuss. Als sie sich voneinander lösten, um Luft zu holen, bemerkte Lily, dass sich um sie herum alle Knospen geöffnet hatten und die Blüten ihr Gesicht der Sonne zuwandten. Auf ihren Lippen kribbelte es.
Sie wollte sich von ihm lösen, aber Tye hielt sie fest. »Hat der Feeder dich verletzt?«, fragte er.
Lily musste an den Mann denken, den die Fee ausgesaugt hatte, und erschauerte. »Mich nicht«, sagte sie dann. »Tye, was machen wir jetzt?«
Er lächelte.
»Was ist?«, fragte Lily.
»Du hast ›wir‹ gesagt«, erwiderte er ironisch. »Ich dachte, das Wort kennst du gar nicht.«
»Ich hab zu diesem Thema einen Leistungskurs besucht«, ging Lily kurz auf das Spiel ein. Dann wurde sie wieder ernst. »Ich verstehe nicht, wie da auf einmal so viele magische Wesen sein konnten. Es war, als hätten sie schon auf der anderen Seite des Tors gewartet.«
»Ich hab gesehen, wie es passiert ist«, entgegnete Tye. »Die Königin der Dryaden hatte uns allen befohlen, am Waldrand Stellung zu beziehen und ein Auge auf das Tor zu haben, falls du zurückkommst.« Er wickelte eine Strähne ihres Haars um seinen Finger. »Als die Fee auftauchte, setzten zwei Trolle die Adler außer Gefecht, und die Feeder gaben sich gegenseitig Rückendeckung, während sie einer nach dem anderen durchgingen. Das Ganze war gut vorbereitet.«
»Aber wie?«, fragte Lily. »Sie konnte doch nicht einfach vorher drüben anrufen und Bescheid sagen.« Dann fiel ihr wieder ein, wie stürmisch die Fee den Kobold begrüßt hatte. »Kann es sein, dass der Kobold ihr Bote war?«
Tye schloss frustriert die Augen. »Da haben wir’s. Du bist nicht die Einzige, die was vermasselt hat. Ich habe den Kobold in unsere Welt gebracht. Und er hat die Zeit gut genutzt. Er hat Kontakt mit Kriminellen aufgenommen, mit ehemaligen Süchtigen und vielen anderen, die so unzufrieden sind mit ihrem Leben, dass sie ihre Welt verlassen und lieber unter den Menschen leben wollen. Als Feeder, so wie er. Dann ist die Fee aufgetaucht, und Dutzende von denen sind rüber zu euch, bevor irgendjemand etwas dagegen unternehmen konnte.«
»Du hast etwas unternommen«, sagte sie und blickte ihn bewundernd an. Ihren edlen Ritter im schimmernden Pelz.
Dieses Mal küsste er sie zuerst. Eng umschlungen, die Finger in seinem weichen Haar vergraben, vergaß Lily einen herrlichen Augenblick lang alles andere, ihre Mutter, die Feeder, die Ritter.
»Ich sollte dich wirklich öfter retten«, sagte Tye, als sie sich irgendwann wieder voneinander lösten.
»Ja, solltest du«, stimmte Lily ihm zu.
Tye lehnte seine Stirn gegen ihre. Einen weiteren Augenblick lang versuchte sie, nicht darüber nachzudenken, was alles schiefgelaufen war. Aber es gelang ihr nicht. Fünfzig oder mehr von diesen Serienkillern in spe streunten hier herum. Und zwar nicht mehr nur auf dem Campus. Sie waren soeben dabei, sich in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen und in der Menschenwelt unterzutauchen. Und das war alles ihre Schuld. »Wie schicken wir die Feeder wieder nach Hause?«, fragte sie bange.
»Mit Worten werden sie sich nicht überzeugen lassen, zurückzukehren. Man muss sie mit Gewalt aufhalten«, erwiderte Tye. »Und dafür sind die Ritter da.«
»Die Ritter … « Sie erzählte ihm von Mr Mayfair.
Tye schwieg einen Moment. »Jetzt weiß ich zumindest, warum die Ritter mich niemals richtig akzeptiert haben«, sagte er dann. »Mr Mayfair hat sie von Anfang an gegen mich aufgehetzt. Wegen meiner Mutter. Wegen seines Sohnes. Weil ich ein Schlüssel bin.«
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