Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Er schüttelte den Kopf. »Jake wird das alles gar nicht gut aufnehmen.«
Wie lustig, dass Tye sich Gedanken um Jakes Gefühlsleben machte. Mal was ganz anderes. »Geht es ihm eigentlich gut?«, fragte Lily, während sie überlegte, was die beiden wohl alles im Dryadenwald miteinander besprochen hatten. Wie musste es sich anfühlen, wenn sich plötzlich herausstellte, dass man einen Bruder hatte? Wenn man plötzlich feststellte, gar nicht so allein zu sein, wie man immer gedacht hatte? Moms Familie fiel ihr wieder ein, und sie wünschte sich, sie wäre sofort zurück nach Vineyard Club gegangen.
Tye zögerte. »Er ist bei Bewusstsein. Und außerdem ist er ein Idiot. Er hätte niemals zu uns rüberkommen dürfen. Er wusste doch, dass er schon bis oben hin voll war mit Magie.«
»Mr Mayfair ist fest entschlossen, Jakes Tod in Kauf zu nehmen, um sein Geheimnis zu bewahren«, sagte Lily. »Er wird uns niemals nahe genug an die Ritter heranlassen, damit wir sie vor den neuen Feedern warnen können.« Könnte sie doch bloß jemandem mitteilen, was sie jetzt über Grandpas alten Freund wusste! Sie hatte ein großes, dunkles, wichtiges Geheimnis entdeckt. Jeder Fernsehsender sollte darüber berichten, es sollte von den höchsten Bergspitzen in alle Himmelsrichtungen verkündet werden, jedes Kind sollte etwas darüber lernen.
»Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es werden, die Feeder aufzuspüren und einzufangen«, meinte Tye. »Wir müssen jemanden finden, dem die Ritter zuhören. Jemanden, den sie nicht sofort und ohne nachzudenken aufspießen würden.«
Lily war sofort klar, wen er meinte. »Die Gargoyles.«
Tye nickte und nahm ihre Hand.
So schnell sie konnten, liefen sie durch Prospect Gardens Richtung Dillon Gym.
Auf der Straße vor der Sporthalle jubelten die Zuschauer den orange und schwarz gekleideten Teilnehmern der großen Parade zu. Als die Abschlussklasse von 1985 vorbeimarschierte, stimmten die jüngeren Alumni auf beiden Straßenseiten einen lauten Schlachtgesang an. »Hip-hip, Tiger-Tiger-Tiger, sis-sis-sis, bum-bum-bum-baaah! Eighty-five! Eighty-five! Eighty-five!« Lily hielt Tyes Hand fest umklammert. Sie wollte unter allen Umständen vermeiden, von ihm getrennt zu werden. »Entschuldigung, Entschuldigung«, wiederholte sie immer wieder, während sie sich zwischen den dicht an dicht stehenden Alumni hindurchschlängelten.
Endlich hatten sie es geschafft und hasteten über die Straße. Eine Musikkapelle stapfte auf sie zu. Geduckt wichen sie Trompetern und Tubabläsern aus. Auf dem gegenüberliegenden Gehweg angekommen, drängelten sie sich durch die Menge und rannten, immer noch Hand in Hand, hinüber zur Sporthalle.
»Professor Ape!«, rief Tye, so laut er konnte.
»Gebildeter Affe! Bitte, wach auf! Wir brauchen dich!«, schrie Lily.
Tye formte die Hände zu einem Trichter, um die Trompeten zu übertönen. »Ein Notfall!« Hinter ihnen brandete Jubel auf, als die Trommler vorbeimarschierten.
Lily wandte sich zu Tye um. »Kannst du mich hoch …«
Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, ging Tye auf ein Knie hinunter, schlang seine Arme um ihre Beine und hievte sie nach oben. Sie streckte die Hand aus und klopfte an das steinerne Kinn. »Feeder sind hier.«
Leise sagte der steinerne Affe. »Es sind immer Feeder hier. Ruft die Ritter.«
»Geht nicht«, erwiderte Lily. Dann erzählte sie ihm von Mr Mayfair und der Fee.
Ein Geräusch wie von knirschendem Kies ertönte, als Professor Ape seinen Kopf drehte und auf Lily und Tye hinuntersah. »Schwere Anschuldigungen«, sagte er in missbilligendem Tonfall. »Das kann nie und nimmer euer Ernst sein.«
»Kommen Sie mit nach Vineyard Club«, bat Tye. »Dann werden Sie sehen, wie ernst es ist. Verlangen Sie, dass man Ihnen den geheimen Raum zeigt. Fragen Sie Mr Mayfair, wo sein Enkel ist. Aber zuerst müssen Sie sie vor den Feedern warnen.«
Obwohl sich nicht ein einziger seiner steinernen Gesichtszüge verändert hatte, sah der Affe plötzlich völlig entsetzt aus. »Ich soll meinen Posten verlassen?«
»Wenn die Ritter nicht so schnell wie möglich etwas unternehmen, werden die Feeder auf Nimmerwiedersehen in der Menschenwelt verschwinden«, drängte Tye. »Wollen Sie etwa dafür verantwortlich sein?«
»Joseph Mayfair ist nie und nimmer ein Verräter«, sagte der Affe. »Ich habe ihn selbst ausgebildet. Es stimmt, er ist sehr leidenschaftlich. Aber er würde doch niemals … «
»Erinnern Sie sich noch, wie Sie von mir verlangt
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