Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
einen Kuss auf die Wange und schritt durch das Tor.
Weg war sie.
Lily zerrte an ihren Fesseln. »Hilfe! Bitte, helft mir!« Aus einigen Metern Entfernung starrten die Passanten immer noch fassungslos herüber. Einer machte Fotos. Lily versuchte, ihren Arm und ihr Bein wieder in die Menschenwelt zurückzuziehen. »Bitte, so helft mir doch!«
Aus dem Kreis der Zuschauer löste sich ein Mann mittleren Alters. Er hatte unscheinbares, braunes Haar und Pausbäckchen. Vorsichtig, die Hände beruhigend ausgebreitet, pirschte er sich an Lily heran. »Keine Sorge«, sagte er. »Bleib ganz ruhig.« Und dann, ganz behutsam, als hätte er einen tollwütigen Waschbären vor sich, berührte er die Knoten.
Genau in dieser Sekunde kam die Fee zurück.
Der Helfer, die Hand noch am Seil, erstarrte.
»Tüt tüt, aber nicht doch«, sagte die Fee. Den Umhang hatte sie abgelegt. Der Mann glotzte sie mit schreckgeweiteten Augen an, während sie ihre herrlichen Flügel entfaltete und ihn ganz darin einhüllte. Dann zog sie ihn näher zu sich heran und schnüffelte genüsslich an seiner Halsbeuge. Kräftiges Rosa schoss in ihre Flügel, begann immer heller zu leuchten und breitete sich überallhin aus, bis sie schließlich in vollem Glanz erstrahlten. Sie presste den Körper fest gegen den ihres Opfers und stöhnte vor Lust.
Der Mann zuckte und zappelte.
Sekunden später fiel er zu Boden wie ein nasser Sack. Aus winzigen Bisswunden am Hals tröpfelte Blut, die blicklosen Augen standen weit offen. Mit dem Handrücken wischte sich die Feeder-Fee einen roten Fleck von der Wange. Dann blickte sie zufrieden in die Runde, entblößte zwei Reihen blutiger Zähne und brach in ein hohes, klirrendes Gelächter aus. Es klang, als würde Glas zersplittern.
Ein Aufschrei ging durch die Menge, und die Leute stoben auseinander.
»Glaubst du im Ernst, ich würde das aufgeben?«, fragte die Fee Lily. »Direkt aus einem Menschen zu trinken … Das ist unvergleichlich. Du willst, dass ich guten Wein gegen Wasser eintausche. Gegen weniger als Wasser. Gegen Luft.« Sie glühte, als hätte jemand im Inneren ihres Körpers ein Feuer angezündet. »Oh, mir ist, als könnte ich fliegen«, jubelte sie und kicherte über ihren eigenen Witz.
»Du darfst das nicht tun!«, schrie Lily. »Lass mich gehen!«
Auf der anderen Seite des Tors packten scharfe Klauen Lilys unsichtbaren Arm. Sie schrie auf und versuchte, sich loszureißen, aber die Fesseln hielten. Ein Kobold tauchte in der Menschenwelt auf. Draußen auf der Straße krachte ein Auto in einen vorausfahrenden Lastwagen.
Übers ganze Puppengesicht strahlend, hob die Fee den Kobold hoch und schwang ihn fröhlich im Kreis herum wie eine Mutter ihr Kind. »Gut gemacht, mein kleines Purzelchen!«
Andere folgten ihm. Elben, Gorgonen, Feen und Trolle passierten das Tor. Eine Schlangenfrau glitt so nahe an Lily vorbei, dass ihre schuppige Haut sie streifte. In Nassau Street quietschten Autoreifen und Wagen krachten ineinander, als die magischen Wesen die Straße hinunterströmten. Lily zerrte verbissen an ihren Fesseln, während immer mehr von ihnen in ihre Welt kamen.
Plötzlich schoss ein orange-schwarzer Streifen durch das Tor. Er rammte die Fee mit voller Wucht und warf sie um. Dann wirbelte der Tiger blitzschnell herum und hieb mit scharfen Krallen nach Lily. Ihre Fesseln fielen zu Boden.
Die Fee kam auf sie zugeflogen. Lily schwang sich auf den Rücken der Raubkatze und schlang die Arme fest um ihren Hals. Der Tiger raste los.
* * *
Der Tiger fegte über den Campus. Festgekrallt in seinem Fell, spürte Lily unter sich die Bewegung seiner Rückenmuskeln, während er über Steinbänke hinwegsetzte und Marmortreppen hinuntersprang. Weiter ging es und weiter. Lily vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Sein Fell duftete wie sommerwarmes Laub, wie Gras nach einem Regen, wie Tye.
Irgendwann fiel er in Schritt, und Lily hob den Kopf. Vor ihnen lagen die kunstvoll arrangierten Blumenbeete von Prospect Gardens. Der Tiger tappte über den perfekt geschnittenen Rasen zu dem Springbrunnen inmitten der Tulpen. Während er gierig Wasser aus dem Becken schleckte, glitt Lily von seinem Rücken herunter. Grashalme ringelten sich um ihre Knöchel und gurrten ihr leise zu. Der Garten lag im Schatten des Nachmittags.
»Du bist gekommen«, sagte Lily. »Meinetwegen.«
Kleine Wellen liefen durch das Fell des Tigers. Die Luft um ihn herum begann zu flirren wie in Sommerhitze. Die orange-schwarzen Streifen lösten sich auf,
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