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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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Ich konnte nicht glauben, daß er war, was
    er war, denn er stand da so schlicht und gelassen, die Beine gespreizt und die Hände hinterm Rücken. Vielleicht waren seine Augen ein wenig kalt und fischartig, als hätten sie mehr gesehen als die der meisten 22
    Männer, aber sie schienen sich eher mit seinem Ge-
    sicht zu streiten als zu ihm zu passen.
    »Du mußt Jack sein«, sagte er freundlich und
    hockte sich auf Deck nieder, nachdem er sich eine
    Stelle mit dem Taschentuch abgestaubt hatte. Stumm
    vor Erstaunen hockte ich mich auch nieder – wozu er mich mit einer Geste aufgefordert hatte –, und da sa-
    ßen wir nun, der Kapitän und ich, mitten auf dem
    Deck wie ein Paar Freunde, während die Mannschaft
    ihrer Arbeit nachging, als sei nichts auf der Welt passiert.
    »So hat also das Geschick dich zum Piraten ge-
    macht. Kein schlechtes Leben für einen Kirchspiel-
    jungen – wenn er einen kühlen Kopf behält.« Er sah
    mich nicht groß an, während er sprach, sondern sah
    nieder aufs Deck, als wolle er mich durch eine allzu eingehende Musterung nicht verängstigen.
    »Ein Kirchspieljunge, wenn er zur See geht und auf
    Zeit darauf fährt – und sei es nur vier oder fünf Tage
    – muß vergessen, daß es überhaupt so etwas gibt wie trockenes Land. Denn das Leben eines Kirchspieljun-gen ist ein zartes Gebilde; und sollte er den Fuß auf Land setzen, so ist es wahrscheinlich, daß er mit beiden Füßen in der Luft tanzt. Verstehst du meinen
    Sinn, Jack?«
    »Ja, Sir«, sagte ich. »Ich würde gehängt werden.«
    »Sehr gut! Ja, wirklich sehr gut! Du weißt also al-
    les über das Dreibein?«
    »Jawohl. Es ist der Baum – der Galgen.«
    »Großartig, Jack! Wahrhaftig großartig! Jeder
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    könnte schon mit halbem Ohr und halbem Auge
    merken, daß du ein kluger Junge bist. Du gefällst mir, Jack. Du und ich werden gut zusammen auskommen.
    Bei deinem Witz möchte ich schwören, daß du aus
    London stammst. Stimmts? Sag’s mir, Junge, ›nichts
    ist mir lieber wie ein Londoner Jung’‹.«
    »Ich bin in Holborn gefunden worden, Sir«, sagte
    ich, indem ich aus seiner lächelnden Stimmung Mut
    schöpfte.
    »Gefunden? Ach ja, Morris hat’s mir erzählt: ein
    Findling. Keine Sorgen, Jack – wenn du keinen eige-
    nen Namen hast, kannst du auch keinen beflecken
    und dich keines Namens schämen. War es eine Kir-
    chentür, die an dir Mutterstelle vertrat?«
    »St. Bride’s, wie man mir gesagt hat.«
    Er sah mich sehr prüfend an und senkte dann wie-
    der die Augen.
    »Vor vierzehn Jahren, Jack? Das hast du Morris
    gesagt.«
    »Soviel ich weiß.«
    Darauf folgte eine lange Pause, in der er mit sich
    zu streiten schien.
    »Dreizehn war’s, Junge – du kannst dich drauf ver-
    lassen: es war vor dreizehn Jahren.«
    »W-warum sagen Sie das … warum?«
    »Weil – weil du mehr wie dreizehn aussiehst als
    vierzehn. Da! Zufrieden?«
    »Ja-jawohl … aber … Sie haben gestockt – als ob
    … als ob sie etwas wüßten … eine Erinnerung –«
    »Ich habe an was anderes gedacht.«
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    »Aber Sie haben mich – gerade – angesehen, als
    ob –«
    »Als ob was?«
    »Ich – ich weiß nicht –«
    »Als ob ich mich an was erinnerte, meinst du?
    Woran sollte ich mich erinnern? Einen Tag vor drei-
    zehn Jahren? Eine Dame mit Schleier, die zu einer
    Kirche ging? Vielleicht St. Bride’s? Eine Dame, deren Gesicht ich kannte? Obwohl sie es vor der Welt ver-bergen wollte? War’s das vielleicht, Jack?«
    »Ich weiß nicht – ich weiß nicht!«
    »Ein warmer Abend, nicht wahr? Der Monat war –«
    »Juli!«
    »Der Monat war Juli … der Tag – kann ich mich
    erinnern? vielleicht – vielleicht der vierzehnte.«
    Er murmelte etwas, was ich nicht verstand. Ich
    fragte ihn danach, aber er lachte und schüttelte den Kopf. Dann hielt er inne und sah mich mit so unge-heurem Ernst an, daß die Sonne auf einmal kalt ge-
    worden schien.
    »Du siehst aus wie dein Vater, Jack. Ganz wie er.«
    Ich muß weiß geworden sein wie ein Gespenst –
    denn er schien besorgt und sagte, er bedauerte seine Worte. Er hätte mich nicht beunruhigen wollen. Ich
    sollte es vergessen. Darauf kniete ich vor ihm nieder und flehte ihn an, mir mehr zu verraten, was ich
    »vergessen« sollte. Den Namen. Den Namen. Um
    Gottes willen den Namen.
    »Sein Name ist Tod , Jack. Er ist tot.«
    »Aber meine Mutter –«
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    Worauf er mir antwortete, daß ein Kirchspieljunge
    besser dran ist ohne ein solches Wissen. Hatten wir uns nicht geeinigt? Es hilft nichts,

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