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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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wieder vernahm
    man das scharfe Schlagen eines Segels, das sich leert und dann einen neuen Bauchvoll Wind übernimmt.
    Das wenige Licht, das durch die Ritzen des Luken-
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    deckels in die Schwärze drang, konnte mir nur erzählen, daß es Tag war, trotzdem sah ich hauptsächlich mit meinen Händen – was mich sehr schmerzhaft in
    die Irre führte … Wir rollten ziemlich stark, und obwohl ich mich mit Armen und Beinen festhielt, be-
    gann mein Magen dem Gang der Wellen zu folgen.
    Das nennt man Seekrankheit, und es ist das Schlimm-
    ste in der ganzen Welt. Ich lag im stinkenden Dunkel des Laderaumes und betete um den Tod. Oben hörte
    ich die Seeleute fluchen und schreien und singen, und ich verwünschte sie für ihre gute Laune. Am lautesten von allen hörte ich die Stimme des Kapitäns, der mit windiger Zunge die Charming Molly ihres Wegs zu
    pfeifen suchte. Wenn er über das Deck kam und ging, bemühte ich mich, der Stimme Gesicht und Gestalt zu geben, denn ich stellte mir vor, daß ich sehr bald vor ihm stehen und mich für meine gesetzwidrige Gegenwart verantworten müßte. Nach Lautstärke, Ton und
    Kraft stellte ich mir den Mann sehr groß und breit
    vor, mit Fäusten wie Stiefel und einem Gesicht wie ein Hammer. Und nach allem, was ich weiß, wird er auch
    an die drei Meter groß und entsprechend breit gewe-
    sen sein: denn ich habe diesen unglückseligen Mann
    nie zu Gesicht gekriegt, obwohl er zuweilen nur um
    Armeslänge von mir entfernt stand …
    Die Dünung nahm ständig zu und mit ihr meine
    Seekrankheit, so daß ich zuletzt nur noch um ein
    schnelles Ende meiner Leiden ächzen konnte. Ich hör-te den Kapitän schreien, man solle festmachen, das
    Vorsegel und die Topsegel einholen, doch obgleich
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    ich den Himmel nicht sehen konnte, muß es sehr
    dunkel geworden sein, denn die Tageslichtritzen
    wurden dämmerig und zeigten ein bedrohliches Grau.
    Die Seeleute sangen nicht mehr, und zwischen uns
    und dem Schweigen stand einzig die Stimme des Ka-
    pitäns, die immer noch schrie. Sie klang sehr mutig da draußen, ganz allein und bereit, den Kampf mit
    Wind, Meer und Himmel aufzunehmen; sie klang ge-
    rade so, als seien die Chancen gleich verteilt.
    Dann sprang uns der Sturm an, der wie ein wildes
    Tier auf uns gelauert hatte. Man sagt, ein Sturm auf See sei das schlimmste aller Übel. Und das stimmt.
    Wäre mir nicht schon die ganze Zeit sterbensübel
    gewesen, wäre ich bestimmt jetzt vor Angst gestor-
    ben. Die Wogen wurden Felsbrocken und donnerten
    gegen unsere Flanken, um eingelassen zu werden,
    während sich eisiges Wasser durch die oberen Fugen
    ergoß – obwohl selbst ein Schiffsbaumeister in diesem Düster kaum gewußt hätte, was oben und unten war:
    denn ich schwöre, daß die Charming Molly oft
    ganze Minuten lang den Kiel gen Himmel reckte!
    Eine gute Halbzeit des Sturmes muß mein Magen
    jedes Mahl hochgebracht haben, das ich in meinem
    Leben gegessen habe; eine schlechte Halbzeit lang betete ich um ich weiß nicht was; und die schlimmste
    Halbzeit (ein Sturm kümmert sich nicht um Arithme-
    tik und hat so viele Hälften, wie er will) lag ich fast tot von einem Schlag jenes undankbaren Sackes, den
    ich befreit hatte, um mir ein Kissen zu machen.
    Als ich wieder zu mir kam, war ich naß und
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    schwach und innen und außen voller Schmerzen. Die
    Bewegung des Schiffes hatte sich beruhigt, und ich
    dachte, Gottes Zorn gegen die Welt hätte nachgelas-
    sen. Ich hörte wieder Schritte über mir und hörte
    auch die Seeleute wieder singen.
    »Da geht er«, hörte ich den Kapitän sagen, »wie
    ein großer schwarzer Tiger am Himmel. Seh’n Sie
    ihn, Mister? Langer Schwanz und eine große Tatze,
    die runtertropfen ins Meer. Mörderische Bestie!« Der Sturm war an uns vorbei.
    Wir fuhren eine Stunde oder mehr auf unserem
    Kurs, während ich mir überlegte, wie ich mich dem
    Kapitän und der Mannschaft am besten bekanntma-
    chen sollte. Ich war genügend erholt, um Hunger und Durst zu haben, und sehnte mich nach dem Anblick
    von See und Himmel. Obwohl ich kaum etwas zu er-
    zählen hatte, blieb mir doch das Wie in der Kehle
    stecken. Als Träger lediglich eines Kirchspielnamens war ich eine armselige Zugabe zur Besatzung eines
    jeden Schiffes. Ich dachte daher ein wenig über meine verschwundene Mutter nach und ob sie wohl noch
    lebte. Das war kein neuer Gedanke, denn er war mir
    viele Male bei meinem Flickschuster gekommen …
    Ich stellte mir vor, ich sei von edlem Blut, aus ir-gendeinem

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