Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jack Holborn

Jack Holborn

Titel: Jack Holborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
Vom Netzwerk:
wäre, dann wolle sie da sein und zusehen – und wenn sie ihre Kleider versetzen müsse, um sich einen Sitzplatz zu ergattern.
    Dann überlegte sie, wie seine feine, kühne Miene wohl das Dreibein überdauern würde und ob seine fürchterlichen Fischaugen nicht in ehrlichem Entsetzen ertrinken würden.
    Wozu er begeistert lachte und die hochgemute Dame lobte. Kam sie aus London? Das hätte er sich gedacht. Nichts sei ihm lieb wie eine Lond’ner Maid.
    Dann, in ernsterer Stimmung – ohne scheinbar die ziemlich große Menge zu beachten, die sich um sie geschart hatte – sagte er: »Liebe Frau, sie werden mich nicht hängen. Eine Zigeunerin hat es mir bei meiner Geburt geweissagt. ›Dieser hier‹, hat sie gesagt, ›wird nie aufgeknüpft werden‹.« Er sprach sehr lebhaft und zog seine Uhr. »Schon jetzt müßte meine Rettung auf dem Wege sein.«
    »Vermodern sollen Sie«, sagte die Frau. »Das will ich nicht hoffen.«
    Der Wärter kam zu mir und berührte mich am Ellbogen. »Wollen Sie jetzt rein zu ihm? Er erwartet Sie!«
    »Was soll das heißen?«
    »Er sagte, ein Junge wolle ihn etwa um acht Uhr besuchen. Er sagte, man solle ihn sofort hereinlassen. Davon hinge viel ab. Er war sehr bestimmt.«
    Ich blickte zurück. Er sah immer noch auf seine Uhr und kümmerte sich nicht um den Aufruhr, den er entfacht hatte. Die Zeit war acht, und – er hegte nicht den mindesten Zweifel – seine Rettung war zur Hand.
    Genauer gesagt, war seine Rettung schon früher gekommen und hatte ihn durchs Gitter beobachtet: jetzt war sie purpurrot vor Scham zurückgetreten. Ich hatte derartige Hoffnungen in seinem Brief nicht gelesen. Aber vielleicht sein Bruder. Das befürchtete ich. Ich hatte falsch gerechnet. Ich hatte die Kleinigkeit nicht bedacht, wessen Tod eigentlich das Geheimnis wertlos machte. Natürlich meiner. Und bis dahin würde ich »Jack, der Retter« sein, stets bereit und willens, wieder und wieder an der Karotte zu nagen.
    Er wandte sich ab von dem Paar, dessen letzte Nacht er verdorben hatte. Eine wenig vornehme Handlung das: der böswillige Diebstahl von einigen Stunden … Er war in meiner Schätzung gesunken, wie er sich auch plusterte, ziemlich tief gesunken.
    Ich dachte an den Brief mit seiner milden Würde und dem stillen Bedauern: seiner Gelassenheit und Ergebenheit. Ich dachte an seine Freundlichkeit und seinen Charme, seine ungekünstelte Art. All dies ergab einen bestimmten Mann, einen Burschen von beträchtlicher, wenn auch vertrackter Würde. Ein großer Jammer, wenn die verbittert würde.
    Ein seltsamer Gedanke überfiel mich. Ich fing an zu lachen. Der Gedanke hatte seine komische Seite oder zumindest etwas Komödienhaftes … Wie wäre es – wenn ich ihn tatsächlich rettete? Und vor einem viel schlimmeren Feind als dem Galgen, vor – sich selbst?
    Ihn mit Würde aus der Welt gehen lassen. Ein seltenes Privileg. Er würde mir dafür danken. (Und wie!) Dieser Brief: ein elegantes Lebewohl wie kaum ein anderes. Warum es mit einem vulgären »Na Jack?« versauen? Nein: fort mit der Versuchung. Er würde sich besser bewähren als der Mann auf dem Boden. Man gebe ihm nur die Chance, und die Welt würde erleben, wie ein Mann seines Schlages dem Tod entgegengeht. Selbst die wütige Frau würde ihm Anerkennung zollen.
    – Und möge Gott verhüten, daß er ihm entgeht! –
    »Gehen Sie noch rein?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Aber er erwartet Sie.«
    »Sagen Sie ihm – meinen Abschied, denn auch ich bin sowas wie ein Gentleman.«
     
    Auf dem ganzen Weg zur Dover Street starrte mich Thomas an, als sei ich verrückt. Ich mußte abwechselnd lachen und weinen. Der große Witz, den ich gerade losgelassen hatte, schien plötzlich ebenso gegen mich gerichtet wie gegen den Mann, von dem ich mich endgültig abgewandt hatte.

XXVI
    Er stand am 18. Dezember vor Gericht und wurde verurteilt, fünf Tage später in Tyburn gehängt zu werden. Ein Weihnachtsgeschenk für den Teufel. Ich erhielt keine Briefe oder Botschaften mehr von ihm: er hatte mich aufgegeben. Auf wen er seine Hoffnungen in seinen letzten Tagen setzte, wußte niemand, aber irgend jemand war es, daran bestand kein Zweifel. Er würde nie aufgeben, und wie es dann ablief, hatte er auch nie aufgegeben. Ich nehme an, daher rührte der Eindruck von Würde und Tapferkeit; nichts in ihm, sondern die Überzeugung, daß was geschehen mußte, ihm nicht geschehen konnte : nicht konnte, auf Grund von diesem – und jenem …
    Man glaubte allgemein, ja nahm es

Weitere Kostenlose Bücher