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Jack McEvoy 01 - Der Poet

Jack McEvoy 01 - Der Poet

Titel: Jack McEvoy 01 - Der Poet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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mir noch nicht angeschaut hatte.
    Grolon hatte beschlossen, in die Cafeteria zu gehen und sich ein Sandwich zu holen. Ich war allein in seinem Büro zurückgeblieben. Ungefähr fünf Minuten vergingen, in denen ich den Umschlag von außen betrachtete. Ich wusste, wenn ich mir die Fotos anschaute, würden sie in meinem Kopf zu unvergänglichen Bildern von meinem Bruder werden. Davor graute mir. Aber ich wusste auch, dass ich mir die Fotos ansehen musste, wenn ich Gewissheit über seinen Tod erlangen wollte. Sie konnten mir helfen, meine letzten Zweifel zu zerstreuen.
    Ich öffnete den Umschlag schnell, damit ich es mir nicht noch anders überlegen konnte. Als ich den Stapel 24 x 30 Zentimeter großer Farbfotos herausgleiten ließ, fiel mein Blick als Erstes auf ein Foto des Dienstwagens meines Bruders, einen weißen Chevy Caprice, allein am Ende des Parkplatzes. In einiger Entfernung war die Hütte des Rangers auf einer kleinen Anhöhe zu sehen. Der Parkplatz war frisch geräumt, und an den Rändern türmten sich über einen Meter hohe Schneemauern auf.
    Das nächste Foto war eine Nahaufnahme der Windschutzscheibe von außen. Die Botschaft war kaum lesbar, weil der Wasserdampf auf dem Glas bereits weitgehend verdunstet war. Aber die Worte waren da, und hinter der Scheibe konnte ich auch Sean sehen. Sein Kopf war nach hinten gekippt, sein Kinn ragte hoch.
    Ich ging zum nächsten Foto über. Die Aufnahme war von der Beifahrerseite her aufgenommen worden, und Seans ganzer Körper war zu sehen. Blut hatte sich von hinten wie eine Kette um seinen Hals gelegt und war dann an seinem Pullover hinuntergelaufen. Sein dicker Parka stand offen. Blutspritzer waren auf dem Wagendach und auf dem hinteren Fenster. Die Waffe lag neben seinem rechten Oberschenkel auf dem Sitz.
    Die restlichen Fotos waren überwiegend Nahaufnahmen aus verschiedenen Winkeln. Aber sie hatten nicht die Wirkung auf mich, die ich befürchtet hatte. Das sterile Licht beraubte meinen Bruder seiner Menschlichkeit. Er sah aus wie eine Marionette. Nichts an den Fotos war so verstörend wie die Tatsache, dass auch sie zu meiner Überzeugung beitrugen, dass Sean wirklich Selbstmord begangen hatte. Dabei gestand ich mir ein, dass ich mit einer heimlichen Hoffnung hergekommen und diese Hoffnung jetzt erloschen war.
    In dem Moment kehrte Grolon zurück. Er musterte mich eindringlich. Ich stand auf und legte die Akte auf seinen Schreibtisch. Grolon setzte sich. Er öffnete eine braune Papiertüte und holte ein in Folie verpacktes Salat-Sandwich heraus.
    »Alles okay?«
    »Ja.«
    »Möchten Sie die Hälfte?«
    »Nein.«
    »Und - wie fühlen Sie sich?«
    Ich lächelte über die Frage, die ich selbst so oft gestellt hatte. Das schien ihn zu irritieren, und er runzelte die Stirn.
    »Schauen Sie mal her«, sagte ich, auf die Narbe in meinem Gesicht deutend. »Die habe ich bekommen, weil ich jemandem genau diese Frage gestellt hatte.«
    »Tut mir Leid.«
    »Das braucht es nicht. Mir hat es auch nicht leidgetan.«
5
    Nachdem ich die Akte über den Tod meines Bruders studiert hatte, wollte ich die Details des Theresa-Lofton-Falles kennen lernen. Wenn ich über das schreiben wollte, was mein Bruder getan hatte, musste ich auch wissen, was er gewusst hatte. Ich musste wissen, zu welchen Einsichten er gelangt war. Aber dabei konnte Grolon mir nicht helfen. Die Akten über unaufgeklärte Morde wurden unter Verschluss gehalten, und Grolon wäre bestimmt der Ansicht, dass der Versuch, mir die Lofton-Akte zu beschaffen, mit mehr Risiken als Vorteilen verbunden war.
    Ich warf einen Blick ins Dienstzimmer von CAP und stellte fest, dass es leer war. Vermutlich war Wexler zum Lunch im Satire. Das war eines der Lokale, in denen die Cops mittags gerne aßen - und tranken. Ich entdeckte ihn in einer der hinteren Nischen. Das einzige Problem war, dass St. Louis auch da war. Sie sahen mich nicht, und ich überlegte, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn ich einfach wieder verschwinden und später versuchen würde, Wexler allein zu erwischen.
    Aber in dem Moment sah er mich. Ich ging zu ihnen hinüber. Ihren mit Ketchup verschmierten Tellern war anzusehen, dass sie mit dem Essen fertig waren. Vor Wexler stand etwas auf dem Tisch, das aussah wie Jim Beam mit Eis.
    »Hoher Besuch«, sagte Wexler gut gelaunt.
    Ich ließ mich neben St. Louis nieder, damit ich Wexler ansehen konnte.
    »Was soll das?«, protestierte St. Louis.
    »Besuch von der Presse«, sagte ich. »Wie geht’s?«
    »Erzähl

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