Jack McEvoy 01 - Der Poet
sind es ihm schuldig, mich reinschauen zu lassen.«
»Das verstehe ich nicht, Jack.«
»Doch, das tun Sie. Ich kann die Sache nicht hinter mich bringen, bevor ich nicht über alles Bescheid weiß. Ich versuche immer noch, es zu begreifen.«
»Und Sie versuchen auch, darüber zu schreiben.«
»Das Schreiben bewirkt bei mir dasselbe wie das Zeug in Ihrem Glas bei Ihnen. Wenn ich darüber schreiben kann, kann ich es auch verstehen. Und danach begraben. Mehr will ich nicht.«
Wexler wandte den Blick von mir ab und griff nach der Rechnung, die die Kellnerin auf den Tisch gelegt hatte. Dann kippte er den Rest seines Drinks hinunter und schob sich aus der Nische. Stehend schaute er auf mich herab und stieß seinen stark nach Bourbon riechenden Atem aus. »Kommen Sie ins Büro«, sagte er. »Ich gebe Ihnen eine Stunde.«
Er hob den Finger und wiederholte sich für den Fall, dass ich nicht richtig zugehört hatte.
»Eine Stunde.«
Im CAP-Dienstzimmer setzte ich mich an den Schreibtisch, an dem mein Bruder immer gesessen hatte. Bisher hatte ihn niemand übernommen. Vielleicht galt er jetzt als Unglücks-Schreibtisch. Wexler stand vor einem Aktenschrank an der Wand und wühlte in einer offenen Schublade. St. Louis war nicht in Sicht; offenbar hatte er beschlossen, dass er mit dieser Sache nichts zu tun haben wollte. Endlich zog Wexler zwei dicke Akten hervor und legte sie vor mich hin.
»Ist das alles?«
»Ja, alles. Sie haben eine Stunde.«
»Hören Sie, das sind ja fünfzehn Zentimeter Papier«, versuchte ich es. »Lassen Sie mich das Zeug mit nach Hause nehmen, und ich bringe es ...«
»Wirklich genau wie Ihr Bruder. Eine Stunde, McEvoy. Achten Sie auf Ihre Uhr, weil dieses Zeug nämlich in einer Stunde wieder in der Schublade verschwindet. In neunundfünfzig Minuten, um genau zu sein. Sie verschwenden Zeit.«
Ich hörte auf, Einwände zu machen, und begann.
Theresa Lofton war ein bildschönes Mädchen gewesen, das an der Universität Pädagogik studiert hatte. Sie wollte Grundschullehrerin werden.
Sie war in ihrem ersten Studienjahr und wohnte in einem Studentenheim auf dem Campus. Neben dem Studium arbeitete sie stundenweise in der Kindertagesstätte, die zum Studentenheim für Verheiratete gehörte.
Man vermutete, dass Lofton an einem Mittwoch, einen Tag nach Beginn der Weihnachtsferien, auf oder nahe dem Campus entführt worden war.
Die meisten Studenten waren bereits in die Ferien gefahren. Theresa war aus zwei Gründen noch in Denver. Die Kindertagesstätte wurde erst am Wochenende geschlossen. Und zudem gab es noch ein Problem mit ihrem Wagen, einem VW-Käfer. Er bekam eine neue Kupplung eingebaut. Erst dann konnte sie damit nach Hause fahren.
Ihre Entführung fiel zunächst niemandem auf, weil ihre Zimmergenossin und alle Freunde bereits fort waren. Niemand wusste, dass sie vermisst wurde. Als sie am Donnerstagmorgen nicht zur Arbeit in der Kindertagesstätte erschien, nahm die Leiterin an, dass sie einfach vorzeitig nach Montana gefahren war, weil sie nach den Weihnachtsferien ohnehin nicht in den Job zurückkehren würde. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass eine Studentin sie im Stich ließ, zumal dann, wenn die Prüfungen überstanden waren und Ferien lockten. Die Leiterin stellte also keine Erkundigungen an und meldete sie auch nicht als vermisst.
Ihre Leiche wurde am Freitagmorgen im Washington Park gefunden. Die Ermittler verfolgten ihre letzten bekannten Aktivitäten zurück bis zum Mittwochmittag, wo sie von der Kindertagesstätte aus die Werkstatt angerufen hatte - der Mechaniker erinnerte sich an Kinderstimmen im Hintergrund. Er hatte ihr gesagt, dass der Wagen fertig sei. Sie hatte geantwortet, sie würde nach der Arbeit zunächst zur Bank gehen und dann den Wagen abholen. Doch sie ging weder zur Bank noch zur Werkstatt. Sie verabschiedete sich um zwölf von der Leiterin der Kindertagesstätte und verschwand durch die Tür. Danach wurde sie von niemandem mehr lebend gesehen. Außer von ihrem Mörder natürlich.
Ich brauchte mir nur die Fotos in der Akte anzusehen, um zu begreifen, wie sehr der Fall Sean gepackt und ihm einen Panzer ums Herz gelegt hatte. Es gab Vorher- und Nachher-Fotos. Eine Porträtaufnahme von ihr, vermutlich für das Jahrbuch der High School. Ein junges Mädchen mit frischem Gesicht, das sein Leben noch vor sich hatte. Welliges dunkles Haar und kristallblaue Augen. Außerdem gab es einen Schnappschuss von ihr in Shorts und Turnhemd. Sie lächelte, während
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