Jack McEvoy 01 - Der Poet
da noch etwas anderes war. Etwas, das ich nicht für jedermann sichtbar ans Licht bringen wollte.
»Komm herein«, sagte Riley. »Ist etwas passiert?«
»Eigentlich nicht.«
Sie führte mich in die Küche, wo sie die Lampe über dem Tisch einschaltete. Sie trug Blue Jeans, dicke Wollsocken und ein Colorado-Buffaloes-Sweatshirt.
»Es gibt nur ein paar Neuigkeiten, was Sean angeht, und ich wollte dir davon erzählen. Persönlich, nicht am Telefon.«
Wir ließen uns beide am Tisch nieder. Die Ringe unter ihren Augen waren immer noch da, und sie hatte nichts getan, um sie zu verbergen. Ihr Kummer erfüllte jeden Winkel des Hauses und war ansteckend.
»Hast du geschlafen?«
»Nein, ich habe gelesen. Was gibt es, Jack?«
Ich erzählte es ihr, und zwar alles. Von Chicago, von den Gedichten, davon, was ich zu tun gedachte. Sie nickte gelegentlich, während ich sprach, zeigte aber sonst keinerlei Reaktion. Keine Tränen, keine Fragen. All das würde kommen, wenn ich fertig war.
»Also das ist die ganze Geschichte«, sagte ich schließlich. »Ich fahre nach Chicago, sobald ich kann.«
Nach langem Schweigen sprach sie endlich. »Es ist komisch. Ich fühle mich so schuldig.« Tränen stiegen in ihren Augen auf, aber sie weinte nicht. »Schuldig? Warum?«
»Die ganze Zeit über bin ich so wütend auf ihn gewesen! Du weißt schon, wegen dem, was er getan hat. Als ob er es mir angetan hätte, nicht sich selbst. Ich fing an, ihn zu hassen, die Erinnerung an ihn zu hassen. Und nun kommst du ... und nun das.«
»So haben wir alle reagiert. Es war der einzige Weg, damit zu leben.«
»Hast du es Millie und Tom schon gesagt?«
»Noch nicht. Aber ich werde es tun.«
»Weshalb hast du Wexler nichts von Chicago erzählt?«
»Ich weiß es nicht. Vermutlich wollte ich einen kleinen Vorsprung haben. Morgen werden sie es selbst herausfinden.«
»Jack, wenn wahr ist, was du sagst, dann sollten sie alles wissen. Ich will nicht, dass derjenige, der das getan hat, davonkommt, nur damit du einer Story nachgehen kannst.«
»Riley«, sagte ich und versuchte, ganz ruhig zu bleiben, »derjenige, der das getan hat, war bereits davongekommen, bis ich aufkreuzt bin. Ich möchte Wexler nur bei den Cops in Chicago zuvorkommen. Einen Tag.«
Wir schwiegen für einen Moment, dann sprach ich weiter.
»Und täusche dich nicht. Ich will die Story, das stimmt. Aber es geht um mehr als nur um die Story. Es geht um mich und Sean.«
Sie nickte, und ich ließ das Schweigen zwischen uns verharren. Ich wusste nicht, wie ich ihr meine Motive erklären sollte. Doch ich wusste, dass sie mehr von mir hören wollte, und ich versuchte, ihr die Erklärung zu geben, die ich selbst nicht völlig verstand.
»Ich erinnere mich, dass wir beide nach unserem High-School-Abschluss ziemlich genau wussten, was wir tun wollten. Ich wollte Bücher schreiben und reich oder berühmt oder beides werden. Sean wollte der Chef sämtlicher Detectives bei der Polizei von Denver werden und alle Geheimnisse der Stadt lösen ... Wir haben es beide nicht ganz geschafft, aber Sean ist seinem Ziel am nächsten gekommen.«
Sie versuchte, über meine Worte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht ganz.
»Jedenfalls«, fuhr ich fort, »am Ende jenes Sommers bin ich nach Paris gegangen, um dort den großen amerikanischen Roman zu schreiben. Als wir uns voneinander verabschiedeten, schlossen Sean und ich einen Handel ab. Es war ziemlich albern. Der Handel besagte, wenn ich reich werden würde, würde ich ihm einen Porsche mit Ski-Halterung kaufen. So einen, wie Redford in Downhill Race hatte. Mehr wollte er nicht. Er würde das Modell aussuchen, aber ich musste ihn bezahlen. Ich sagte, das wäre ein schlechter Handel für mich, weil er nichts dagegenzusetzen hätte. Aber er sagte, da gäbe es doch etwas. Er sagte, wenn mir je etwas passieren würde - du weißt schon, wenn ich ermordet oder verletzt oder ausgeraubt werden würde -, dann würde er herausfinden, wer es getan hatte. Er würde dafür sorgen, dass niemand damit durchkam. Und das Seltsame ist, dass ich ihm schon damals geglaubt habe. Und etwas daran war sehr tröstlich.«
Die Geschichte schien auf die Art, wie ich sie erzählt hatte, nicht viel Sinn zu ergeben. Ich war nicht einmal sicher, worauf ich hinauswollte.
»Aber das war sein Versprechen, nicht deines«, sagte Riley.
»Ja, ich weiß.« Ich schwieg für eine Weile.
Riley musterte mich.
»Es ist nur so, dass ... Ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und zuschauen
Weitere Kostenlose Bücher