Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
brauchte man ihn nicht wirklich. Als sei einem dieser Kredit nicht besonders wichtig. Als stünden die Chancen fifty-fifty, dass man dem Kerl überhaupt gestattet, mit an Bord zu kommen und ein wenig an den großen, aufregenden Gewinnen teilzuhaben, die gleich hinter der nächsten Ecke winken. Als ob das größte Problem für einen darin bestünde, sich zu entscheiden, wessen Kreditangebot man überhaupt in Erwägung ziehen will.
Ein weißes Hemd, logisch, und eine dezente Krawatte. Aber welchen Anzug? Die italienischen waren vielleicht etwas zu modisch. Nicht den Armani, Er musste wie ein seriöser Geschäftsmann aussehen. Reich genug, um sich ein Dutzend Armanis zu kaufen, klar, aber irgendwie zu seriös, um ernstlich daran zu denken. Zu seriös und zu sehr mit wichtigen Dingen beschäftigt, um Zeit mit Einkäufen auf der Madison Avenue zu vergeuden. Er beschloss, Kontinuität sei das Merkmal, das es zu unterstreichen gelte. Eine über drei Generationen hinweg fortgesetzte geschäftliche Erfolgsstory, die sich vielleicht in dynastischem Modebewusstsein niederschlug. Als habe sein Großvater Chesters Vater als jungen Mann bei seinem Schneider eingeführt, und später habe sein Vater Chester dorthin mitgenommen. Dann fiel ihm sein Anzug von Brooks Brothers ein. Alt, aber tadellos, dezentes Karomuster, das Jackett mit Seitenschlitzen, für Juni etwas zu warm. Wäre dieser Anzug ein guter Bluff? Als wollte er sagen: Ich bin so reich und erfolgreich, dass mir eigentlich egal ist, was ich anhabe? Oder würde er darin wie ein Verlierer aussehen?
Er nahm ihn aus dem Kleiderschrank und hielt ihn sich vor den Körper. Klassisch, aber schäbig. So sah er wie ein Loser aus. Er hängte ihn zurück. Versuchte es mit dem grauen Anzug aus der Londoner Savile Row. Perfekt. Darin sah er wie ein vermögender Gentleman aus. Klug, ein Mann mit Geschmack, unbegrenzt vertrauenswürdig. Er wählte eine kaum sichtbar gemusterte Krawatte und solide schwarze Schuhe aus. Zog alles an und drehte sich vor dem Spiegel nach links und rechts, um sich zu begutachten. Konnte nicht besser sein. In dieser Aufmachung fand Chester sich selbst fast vertrauenswürdig. Er trank seinen Kaffee aus, tupfte sich die Lippen ab und ging durch die Küche in die Garage. Ließ den Motor seines Mercedes an und war um sechs Uhr fünfundvierzig auf dem um diese Zeit noch nicht verstopften Merritt Parkway.
Reacher verbrachte in Atlanta fünfzig Minuten auf dem Boden, startete dann wieder und flog nach Nordosten in Richtung New York weiter. Über dem Atlantik ging die Sonne auf. Er trank Kaffee. Die Stewardess hatte ihm Mineralwasser angeboten, aber er hatte lieber Kaffee genommen. Der Kaffee war heiß und stark, und er trank ihn schwarz. Reacher brauchte ihn, um sein Gehirn in Schwung zu bringen. Er versuchte herauszubekommen, wer, zum Teufel, diese Mrs. Jacob war. Und warum sie Costello dafür bezahlt hatte, dass er ganz Amerika nach ihm absuchte.
Über dem Flughafen LaGuardia mussten sie Warteschleifen fliegen. Das gefiel Reacher. Langsam in geringer Höhe über Manhattan kreisen, das in der hellen Morgensonne unter ihnen lag. Wie ein Film ohne Soundtrack. Die im Kurvenflug sanft rüttelnde Maschine. Die unter ihnen vorbeigleitenden Wolkenkratzer mit ihren von der Morgensonne vergoldeten Fassaden. Die Twin Towers. Das Empire State Building. Das alte Chrysler Building, sein Favorit. Citicorp. Dann eine Steilkurve, der Sinkflug über Queens und die Landung. Die Gebäude der Midtown jenseits des Flusses schienen an den kleinen Fenstern vorbeizuziehen, als die Maschine wendete und zum Terminal zurückrollte.
Er hatte einen Termin um neun. Das hasste er. Nicht wegen der Uhrzeit. Für den größten Teil der Geschäftswelt in Manhattan war der Vormittag um neun Uhr schon halb vorbei. Nein, ihm war nicht die Uhrzeit zuwider, sondern die Tatsache, dass er überhaupt einen Termin hatte. Es war schon sehr lange her, dass Chester Stone sich bei jemandem einen Termin hatte geben lassen. Tatsächlich konnte er sich nicht daran erinnern, jemals irgendeinen Besuchstermin vereinbart zu haben. Das hatte vielleicht sein Großvater getan, damals in den allerersten Jahren. Seither hatte die Sache immer andersherum funktioniert. Alle drei Chester Stones, vom Großvater bis zum Enkel, hatten Sekretärinnen, die huldvoll versuchten, im übervollen Kalender ihres Chefs einen Besuchstermin für den jeweiligen Bittsteller zu finden. Oft hatten Leute tagelang auf ein vorläufiges
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