Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Schalter nahm es, strich die Scheine glatt und bildete drei kleine Stapel.
»Ihr Name, Sir?«, fragte sie.
»Truman«, antwortete Reacher. »Wie der Präsident.«
Die junge Frau ließ keine Reaktion erkennen. Sie war vermutlich gegen Ende von Nixons Präsidentschaft im Ausland geboren. Vielleicht in Carters erstem Jahr. Reacher war das egal. Er war zu Beginn von Kennedys Präsidentschaft im Ausland zur Welt gekommen. Er hatte nicht vor, sich darüber zu äußern. Auch für ihn war Truman eine Gestalt aus der Frühgeschichte Amerikas. Die Angestellte tippte seinen Namen in ihren Computer ein, ließ sein Ticket ausdrucken. Sie steckte es in einen Umschlag mit einer rotblauen Weltkugel - um es gleich wieder herauszuziehen.
»Ich kann Sie sofort einchecken«, sagte sie.
Reacher nickte. Das Problem beim Kauf eines Flugtickets in bar, vor allem auf dem Flughafen Miami International, war der Krieg gegen Drogen. Wäre er an den Schalter getreten und hätte großspurig seinen Packen Hunderter aus der Tasche gezogen, hätte die junge Frau auf den kleinen Alarmknopf am Boden hinter ihrem Schalter treten müssen. Danach hätte sie auf ihrer Tastatur herumgespielt, bis zwei Polizeibeamte von links und rechts auf ihn zutraten. Die Polizei hätte einen großen, braun gebrannten Kerl mit einem dicken Bündel Geldscheine in der Tasche gesehen und ihn sofort für einen Drogenkurier gehalten. Ihre Strategie bestand darin, Jagd auf Drogen zu machen, selbstverständlich aber auch die Erlöse zu beschlagnahmen. Sie ließ nicht zu, dass man es auf sein Bankkonto einzahlte, dass man es ausgab, ohne dass jemand davon Notiz nahm. Sie setzte voraus, dass der normale Bürger größere Beträge mit Kreditkarten bezahlte. Vor allem auf Reisen. Vor allem zwanzig Minuten vor Abflug am Ticketschalter. Und diese Annahme hätte zu Verzögerungen, Ärger und Papierkram geführt - drei Dinge, die Reacher stets zu vermeiden suchte. Deshalb hatte er seine Rolle sorgfältig vorbereitet. Er spielte einen Kerl, dem man keine Kreditkarte aushändigte, selbst wenn er eine gewollt hätte: ein Raubein, das Pech gehabt hatte und deshalb abgebrannt war. Für den Erfolg wichtig waren das zugeknöpfte Hemd und seine Art, die kleinen Geldscheine sorgfältig hinzuzählen. Beides verlieh ihm einen schüchternen, verlegenen Ausdruck. Es nahm die Angestellten an den Ticketschaltern für ihn ein. Sie waren alle unterbezahlt und hatten wegen ihrer bis zur Höchstgrenze belasteten eigenen Kreditkarten zu kämpfen. Dann sahen sie auf und hatten einen Mann vor sich, der noch etwas schlechter dran war als sie, und reagierten instinktiv mit Mitgefühl statt Misstrauen.
»Flugsteig B sechs«, sagte die junge Frau. »Ich habe Ihnen einen Fensterplatz reserviert.«
»Danke«, erwiderte Reacher.
Er ging zum Flugsteig. Eine Viertelstunde später hob das Flugzeug ab, wobei sich Reacher vorkam, als sitze er wieder in Crystals Porsche - nur hatte er hier viel weniger Beinfreiheit, und der Sitz neben ihm war leer.
Um sechs Uhr gab Chester Stone auf. Er stellte den Wecker ab und stand leise auf, um Marilyn nicht zu wecken, nahm seinen Bademantel vom Haken, verließ barfuß das Schlafzimmer und ging in die Küche hinunter. Sein Magen war zu übersäuert, als dass er an Frühstück hätte denken mögen, deshalb begnügte er sich mit Kaffee und ging zum Duschen in die Gästesuite, wo er niemanden störte, wenn er Lärm machte. Er wollte nicht, dass Marilyn merkte, dass er nicht schlafen konnte. Sie wachte jede Nacht auf und machte irgendeine Bemerkung darüber, dass er neben ihr wach lag, aber da sie tagsüber nie davon sprach, vermutete er, dass sie sich morgens nicht mehr daran erinnern konnte oder vielleicht glaubte, nur geträumt zu haben. Er war sich ziemlich sicher, dass Marilyn nichts ahnte. Und dabei sollte es auch bleiben, denn es war schon schlimm genug, sich allein mit solchen Problemen herumschlagen zu müssen.
Beim Rasieren und unter der Dusche überlegte er, was er anziehen und wie er auftreten sollte. Die Wahrheit war, dass er sich diesem Kerl praktisch auf den Knien rutschend nähern würde. Ein Geldverleiher als letzte Rettung. Seine letzte Hoffnung, seine letzte Chance, Jemand, der seine gesamte Zukunft in der Hand hielt. Wie sollte er sich einem solchen Menschen also nähern? Nicht auf den Knien. So wird im Geschäftsleben nicht gespielt. Sieht man aus, als brauche man dringend einen Kredit, bekommt man keinen. Man kriegt ihn nur, wenn man aussieht, als
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