Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Zeitfenster gewartet - und danach noch stundenlang im Vorzimmer. Aber diesmal war es umgekehrt. Und das machte ihn wütend.
Er kam früh, weil er besorgt war. In seinem Büro hatte er vierzig Minuten damit verbracht, über seine Optionen nachzudenken. Er hatte keine. Wie er die Sache auch drehte und wendete, ihm fehlten eins Komma eine Million Dollar und sechs Wochen zum Erfolg. Und auch das machte ihm zu schaffen. Weil dies kein spektakulärer Absturz war. Keine totale Katastrophe. Es war eine angemessene und realistische Reaktion auf den Markt, die ihr Ziel schon fast, aber eben doch nicht ganz erreicht hatte. Wie ein heroischer Abschlag vom Tee, der eine Handbreit vor dem Grün landet. Sehr, sehr nahe, aber nicht nahe genug.
Um neun Uhr morgens ist das World Trade Center für sich allein die sechstgrößte Stadt im Bundesstaat New York. Mit nur sechseinhalb Hektar Grundfläche, aber einer Tagesbevölkerung von hundertdreißigtausend Menschen. Chester Stone hatte das Gefühl, die meisten von ihnen umschwirrten ihn, als er jetzt auf der Plaza stand. Sein Großvater hätte an dieser Stelle im Hudson River gestanden. Chester selbst hatte von seinem Bürofenster aus verfolgt, wie die Aufschüttung sich allmählich ins Wasser hinausgeschoben hatte und die gigantischen Türme aus dem trockenen Flussbett emporgewachsen waren. Er sah auf seine Armbanduhr und ging hinein. Fuhr mit dem Aufzug in den siebenundachtzigsten Stock und trat auf einen stillen, menschenleeren Korridor hinaus. Die Decke war niedrig, der Gang nicht allzu breit. Auf beiden Seiten führten Türen in Büros, in die asymmetrisch rechteckige Drahtglasfenster eingesetzt waren. Er fand die richtige Tür, versuchte durchs Glas zu sehen und drückte auf den Klingelknopf. Der Türöffner summte sofort, und er betrat den Empfangsbereich. Dies schien eine gewöhnliche Bürosuite zu sein. Überraschend gewöhnlich. Eine Empfangstheke aus Eiche mit Messingbeschlägen, ein Hauch von Luxus, und dahinter ein Rezeptionist. Er blieb kurz stehen, straffte die Schultern und trat auf die Theke zu.
»Chester Stone«, sagte er mit fester Stimme. »Ich habe um neun Uhr einen Termin bei Mr. Hobie.«
Der Rezeptionist war die erste Überraschung gewesen. Er hatte eine Frau erwartet. Die zweite Überraschung war, dass er sofort hineingeführt wurde. Er hatte damit gerechnet, eine gewisse Zeit im Empfangsbereich in einem unbequemen Sessel sitzend warten zu müssen. So hätte er’s gemacht. Wäre irgendein verzweifelter Mensch mit der Bitte um einen rettenden Kredit zu ihm gekommen, hätte er ihn erst einmal zwanzig Minuten lang schwitzen lassen. Das war doch sicher ein elementarer psychologischer Schachzug.
Das innere Büro war riesig. Hier hatte man Wände herausgenommen, und es war auffällig dunkel. Eine Wand bestand nur aus Fenstern, die aber hinter Jalousien verschwanden, deren senkrechte Lamellen nur zu schmalen Schlitzen geöffnet waren. Die Einrichtung bestand aus einem großen Schreibtisch und drei Sofas, die zusammen ein Quadrat bildeten. An den Enden der Sofas standen niedrige Lampentische, in der Mitte ein riesiger quadratischer Couchtisch aus Glas und Messing auf einem Orientteppich. Das Ganze sah aus wie eine Wohnzimmerdekoration im Schaufenster eines Möbelgeschäfts.
Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann. Stone machte sich auf den Weg zu ihm. Er schlängelte sich zwischen den Sofas hindurch, ging seitlich um den Couchtisch herum. Näherte sich dem Schreibtisch. Streckte seine rechte Hand aus.
»Mr. Hobie?«, sagte er, »ich bin Chester Stone.«
Der Mann hinter dem Schreibtisch hatte grausige Brandwunden. Eine Hälfte seines Gesichts war völlig mit Narbengewebe bedeckt und schuppig wie die Haut eines Reptils. Stone wandte entsetzt den Blick ab, aber er sah es aus dem Augenwinkel heraus. Wo das Narbengewebe sich weiter über den Kopf zog, hatte es die Textur eines zerkochten Hühnerfußes, war aber unnatürlich rosa. Es war weitgehend unbehaart, aber an der Grenze zum normalen Haaransatz auf der anderen Kopfhälfte wucherten einzelne graue Haarbüschel. Das Narbengewebe sah klumpig verhärtet aus, die Haut der unverbrannten Gesichtshälfte jedoch war weich und von Runzeln durchzogen. Der Mann war schätzungsweise fünfzig bis Mitte fünfzig. Er saß auf einem dicht an den Schreibtisch herangeschobenen Drehsessel und hatte die Hände im Schoß liegen. Stone stand vor ihm, zwang sich dazu, nicht wegzusehen, streckte weiter seine rechte Hand über den
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