Jack Reacher 09: Sniper
lediglich den Kopf und sagte: »Kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
Reacher sah zu der gerahmten Zielscheibe hinüber.
»Ist das Ihre?«, fragte er.
»Was Sie hier sehen, gehört alles mir.«
»Auf welche Entfernung?«
»Warum?«
»Weil ich denke: Waren es sechshundert Yards, sind Sie ziemlich gut. Waren es achthundert, sind Sie sehr gut. Waren es tausend, sind Sie unglaublich gut.«
»Sie schießen auch?«, fragte der Mann.
»Ich hab’s früher getan«, antwortete Reacher.
»Militär?«
»Schon lange her.«
Der Kerl drehte sich um und nahm den Rahmen vom Haken. Legte ihn vorsichtig auf die Theke und drehte ihn um, damit Reacher ihn sehen konnte. Am unteren Rand stand eine Zeile in verblasster Tinte: U.S. Marine Corps: Einladungswettbewerb 1978 über 1000 Yards, Gunny Samuel Cash,
3. Platz. Darunter folgten die Unterschriften von drei Preisrichtern.
»Sie sind Sergeant Cash?«, fragte Reacher.
»Pensioniert, aber noch lebendig.«
»Ich auch.«
»Aber Sie waren nicht im Corps.«
»Das können Sie mit einem Blick feststellen?«
»Mühelos.«
»Army«, sagte Reacher. »Aber mein Dad war Marineinfanterist.«
Cash nickte. »Das macht Sie halb menschlich.«
Reacher ließ seine Fingerspitzen über das Glas, über die Einschusslöcher gleiten. Eine schöne Fünfergruppe, während ein sechster Schuss um Haaresbreite außerhalb des inneren Ringes saß.
»Gut geschossen«, sagte er.
»Ich müsste Glück haben, um das heutzutage auf halbe Entfernung zu schaffen.«
»Ich auch«, meinte Reacher.
»Soll das heißen, dass Sie das früher auch gekonnt hätten?«
Reacher gab keine Antwort. Tatsächlich hatte er den vom Marine Corps veranstalteten Einladungswettbewerb über tausend Yard genau zehn Jahre nach Cashs mühsamem dritten Platz gewonnen. Er hatte sechsmal mitten ins Ziel getroffen, und seine Schüsse hatten ein gezacktes Loch hinterlassen, durch das ein Mann seinen Daumen stecken konnte. In den folgenden zwölf arbeitsreichen Monaten hatte er den glänzenden Pokal auf den Regalen aller möglichen Dienstzimmer zur Schau gestellt. Das war ein außergewöhnliches Jahr gewesen. Er hatte sich auf einer Art Zenit befunden: körperlich, mental, auf jede nur denkbare Weise. In jenem Jahr hatte er – buchstäblich und metaphorisch – nicht verlieren können. Aber er hatte den Titel im folgenden Jahr nicht verteidigt, obwohl seine Vorgesetzten ihn dazu drängten. Rückblickend hatte er später erkannt, dass diese Entscheidung der Auftakt zu zwei Dingen gewesen war: der Beginn seiner langen, langsamen Trennung von der Army und der Beginn seiner inneren Rastlosigkeit. Der Beginn seines Dranges, ständig in Bewegung zu bleiben und nie zurückzublicken. Der Beginn einer Sehnsucht, nie mehr zweimal das Gleiche zu tun.
»Tausend Yards sind ziemlich weit«, erklärte Gunny Cash.
»Tatsächlich bin ich seit meinem Ausscheiden aus dem Corps keinem Mann mehr begegnet, der auch nur das Blatt hätte treffen können.«
»Ich hätte vielleicht den Rand gestreift«, sagte Reacher.
Cash nahm den Rahmen von der Theke und hängte ihn wieder an die Wand. Er nahm den rechten Daumenballen zu Hilfe, um ihn auszurichten.
»Es gibt hier keine Tausendyardbahn«, sagte er. »Das wäre Munitionsvergeudung und würde nur bewirken, dass die Kunden sich für Flaschen halten. Aber ich habe eine hübsche Dreihunderter, die heute Morgen nicht benützt wird. Auf der könnten Sie schießen. Ein Kerl, der aus tausend die Scheibe treffen kann, müsste auf dreihundert ziemlich gut sein.«
Reacher sagte nichts.
»Glauben Sie nicht auch?«, fragte Cash.
»Ich denke schon«, antwortete Reacher.
Cash zog eine Schublade auf und holte ein neues Papierziel heraus. »Wie heißen Sie?«
»Bobby Richardson«, sagte Reacher. Robert Clinton Richardson, hat im Jahr 1959 gute 0,301 geschlagen, 141 Hits in 134 Spielen, aber die Yanks sind trotzdem nur Dritte geworden.
Cash zog einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche und schrieb R. Richardson, 300 Yards auf die Zielscheibe. Darunter notierte er das Datum und die Uhrzeit.
»Sie führen genau Buch«, sagte Reacher.
»Gewohnheit«, meinte Cash. Dann zeichnete er ein X in den innersten Kreis. Der Buchstabe war ungefähr zwölf Millimeter hoch und wegen Cashs etwas schräger Handschrift nur ungefähr zehn Millimeter breit. Er ließ das Papier auf der Theke liegen und verschwand in dem Raum mit dem Kühlschrankgeräusch. Kam eine Minute später mit einem Gewehr zurück. Es war ein Remington M24 mit
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