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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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lockerte den Krawattenknopf und setzte sich an den Tisch, wo er auf seine Hände starrte. Er spielte gedankenverloren mit dem Ehering an seinem Finger.
    «Jetzt musst du bleiben. Jetzt sind nur noch wir zwei übrig», sagte er.
    «Ich gehe», antwortete ich.
    «Dann koch uns wenigstens was.»
    «Ich kann nicht kochen.»
    «Ich auch nicht.»
    In jener Nacht tauschte ich meine harte Schlafstelle auf dem Boden mit dem Platz neben Vater. Ich lag dicht nebenseinem schlafenden Körper und lauschte seinem regelmäßigen Atem.
    Täglich besuchten wir Mutters und Großvaters Grab. Einmal, kurz vor dem vereinbarten Datum für die Abreise, murmelte Vater: «Hier stelle ich mal eine Bank hin und pflanze einen Baum, damit wir Schatten haben. Es soll gut aussehen, die anderen sollen vor Neid erblassen.» In der Nähe gruben die Letzten ihre Toten aus, und eine Frau säuberte gründlich die Familiengruft. Sie wusste, dass es für sehr lange reichen musste. Ich suchte Katicas Grab auf, ich war so sehr vertieft in den Gedanken an sie, dass ich nicht hörte, als Vater sich näherte. Plötzlich vernahm ich seine Stimme im Rücken: «Das Serbenmädchen hat dir gut gefallen, nicht wahr? Wenn du willst, mache ich auch hier eine Bank, damit du bei ihr sitzen kannst, solange du willst.»
    Abends wärmte ich das Essen auf, das uns eine Nachbarin vorgekocht hatte. Ich sah Vater lange an, und ein neuartiges Gefühl stieg in mir auf. Jetzt, so kurz vor dem Abschied, konnte ich mir vorstellen, mich um jenen Mann, der mir halb fremd und halb vertraut war, zu kümmern. Ihn sogar zu lieben. Es würde nicht schwerer sein als all das, was ich ohnehin schon getan hatte.
    Als wir längst im Dunkeln und in der Kühle der Nacht dalagen und er sich seit einiger Zeit nicht mehr gerührt hatte, sagte ich leise: «Ich bin gar nicht in Sibirien gewesen. Ich konnte rechtzeitig aus dem Zug springen.» Sein Atem setzte kurz aus, doch sonst gab es kein Zeichen dafür, dass er mich gehört hatte. Am Morgen kochte ich Kaffee, stellte eine Tasse neben das Bett, und weil er sich nicht rührte, ging ich allein zur Arbeit.
    * * *
    Als sich das Gerücht verbreitete, dass das, was uns in Lothringen erwartete, kaum besser war als das, was wir schon hatten, sprang etwa die Hälfte der ausreisewilligen Familien wieder ab. Außerdem hofften inzwischen viele wieder auf die Heimkehr ihrer Leute aus Sibirien, denn es hatte sich herumgesprochen, dass einige Männer und Frauen aus anderen Dörfern zurückgekehrt waren. Abreisen wollten die, die sich mehr Chancen versprachen, weil sie französisch klingende Namen hatten oder ein wenig Französisch sprachen.
    Am Vormittag des 13. Mai 1951 wurden drei Züge an die kleine Haltestelle auf freiem Feld gebracht, die auf der Strecke nach Temeschwar als Bahnhof diente. Einer davon war ein Personenzug, die zwei anderen waren Güterzüge. Den ganzen Tag hindurch und bis tief in die Nacht wurde mit Pferde- und Ochsenkarren dorthin geschafft, was die Menschen nicht zurücklassen wollten. Schwere Möbel, wie sie die Schwaben gerne besaßen, Kredenzen, Schränke, Betten, Tische, Kleider, Geschirr, Bettzeug und Matratzen, Pflüge, übervolle Säcke mit Getreide, Mehl und Kartoffeln. Im selben Maße, wie sich die Höfe der Leute leerten – insofern es noch ihre Höfe waren –, füllten sich die Waggons auf.
    Auch Pfarrer Schulz verpackte das Tabernakel, die Monstranz und die Kirchenbücher, dann wurden sie und der Altar von einigen Männern auf Karren gestellt. Langsam setzten sich die Karren in Bewegung, und der Pfarrer folgte ihnen zu Fuß.
    Sogar ich legte Hand an und half aus. Mein Gepäck, das aus einem einzigen Koffer bestand, war schon seit Tagen gepackt. Nur Vater hielt sich fern, lief wie ein Tier im Käfig auf und ab und schien mit sich selbst zu ringen.Dann verschwand er für den Rest des Tages und tauchte erst nach Mitternacht wieder auf. Inzwischen waren die Waggons verschlossen worden, und einige Männer blieben über Nacht bei den Zügen, während sich die anderen zum letzten Mal in ihren Häusern schlafen legten.
    Wir lagen wach und eng aneinandergedrückt, Vater und ich.
    «Was wirst du jetzt tun?», fragte ich.
    «Ich werde schon überleben, mach dir mal keine Sorgen um mich», antwortete er.
    Auf den Höfen – da war ich mir sicher – lagen die Menschen wach, so wie wir, und starrten in die Dunkelheit. Sie bewohnten nur noch das Gesindehaus, den Stall oder ein Zimmer ihres früheren Hauses, während sich in den übrigen

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