Jacob beschließt zu lieben - Roman
Schulter, und sie nickte mit gesenktem Blick. «Auch du bist im besten Alter. Du kannst nicht länger warten», fuhr er fort. «Wie schade, dass Sarelo sich eueren Hof geholt hat. Den kriegst du nicht mehr zurück. Ich habe nicht verstanden, was dein Vater an dem Jungen gefunden hat, bis ich von der Sache mit dem Gold gehört habe.»
Er streifte mit der Schuhspitze die Landkarte. «Nun, Jacob, kommst du mit? Die Entscheidung deines Vaters kennen wir, aber ich bin gar nicht unglücklich darüber. Er hat nie wirklich zu uns gehört. Er ist eines Tages hier wie aus dem Nichts aufgetaucht. Dich aber brauchen wir. Ein Obertin sollte dabei sein. Du kriegst dort genug Ackerland, und eine Frau wird sich auch finden.» Er zwinkerte mir zu und flüsterte mir ins Ohr: «Wenn sie nicht schon gefunden ist.» Dann drehte er sich zu seiner Tochter um und forderte sie auf: «Sag doch unserem Jacob, wie du heißt.»
«Johanna», murmelte sie und sah mich an.
«Johanna heißt sie, und alles andere stimmt auch», ergänzteder Wirt. Er schickte sie wieder weg, legte mir seinen Arm freundschaftlich um die Schulter, als wären wir nun durch eine Art Versprechen miteinander verbunden, und führte mich zu den anderen.
«Wir müssen jetzt entscheiden, was mit der Kirche geschehen soll», sagte der Rosshändler.
Lange Zeit hatte man daran festgehalten, die Kirche abzureißen und samt Altar, Tabernakel und Glocken mitzunehmen. Doch die Aufgabe schien zu schwierig, und die Zeit, die man dafür benötigt hätte, zu lange. Außerdem wollten die Behörden keinen Passierschein für einen Zug ausstellen, in dem eine ganze Kirche transportiert wurde. Da konnte der Rosshändler, der regelmäßig deshalb nach Temeschwar fuhr, gar nicht genug bestechen. Als ob die Kommunisten nicht daran interessiert gewesen wären, die Kirchen verschwinden zu lassen. Keiner wollte Kopf und Kragen für eine Kirche riskieren, obwohl man es beinahe für ein ganzes Dorf tat.
Man beschloss, die Kirche aufzugeben, danach auch die kleine und die mittlere Glocke. Nur die große, die musste auf jeden Fall mit. Sie hatte geläutet, als Frederick gestorben war, und später für viele andere auch. Sie würde es auch noch für die künftigen Toten tun. Die Idee, den Friedhof mitzunehmen, alle Toten in neue Särge zu verfrachten und nach Lothringen zu bringen, wurde verworfen. Das stellte vor allem Pfarrer Schulz zufrieden.
Doch weil immer mehr protestierten – die, die sich von ihren Ahnen nicht trennen wollten –, entschied man, nicht zu entscheiden. Wer wollte, konnte die Grüfte öffnen und entnehmen, was man ihnen vor Jahrhunderten oder vor Kurzem überantwortet hatte. Man würde einfach mitdem Platz im Waggon vorliebnehmen, der ohnehin schon vorgesehen war. Fahrgäste mit Toten würden gleich behandelt werden wie solche ohne.
Dann informierte uns der Rosshändler, dass er nach Temeschwar fahren würde. Nun würde sich zeigen, ob wir auch wirklich die versprochenen Züge bekämen, und wenn ja, wie viele. Auf der Gasse streckte mir der Wirt die Hand entgegen: «Abgemacht?», fragte er. Zögernd schlug ich ein, aber ohne zu antworten.
Die nächste Woche verbrachten die Leute damit, auf den Rosshändler zu warten. Sie warteten, wenn sie arbeiteten und wenn sie abends in ihre Betten sanken. Sie spähten dauernd zur Straße nach Temeschwar hinüber, und wenn die Glocke die Stunde geschlagen hatte, hatte man eine weitere Stunde gewartet. Die Gedanken waren wie festgeschraubt. Eine Angst, zu Hause ewig ein Fremder zu bleiben, wurde von der anderen abgelöst: an einem Ort, von dem man nicht einmal wusste, wie man seinen Namen korrekt aussprach, ebenfalls nur ein Fremder zu sein.
Um sich zu beschäftigen, begannen manche, ihre Toten vom Friedhof zu holen und nach Hause zu bringen. Als ich eines Tages auf der Gasse Johanna traf, trug sie gerade eine Schachtel bei sich.
«Wen hast du da drin?», fragte ich sie.
«Großmutter.» Johanna war üppig und kräftig für ihr Alter, und ihre Lippen fest und süß – bestimmt waren sie das – wie die Pfirsiche aus unserem Garten. Ihr Gang war bestimmt, und wenn sie ihre Hüften bewegte, konnte einem schwindlig werden.
«Ist dein Vater auf dem Friedhof?», fragte ich.
«Alle sind dort, Mutter, Vater, Großvater.» Als sie weitergehenwollte, hielt ich sie zurück. «Willst du auch, dass ich komme?»
Als wollte sie auf meine Frage antworten, hob sie den Blick und sah mich direkt an. Sie hatte nichts Mädchenhaftes mehr. Sie
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