Jacob beschließt zu lieben - Roman
legte und die Russen wieder abzogen. Die Erde war tiefgefroren, anders als noch Anfang Herbst, als der Totengräber sie mühelos aufgerissen hatte, um in ihr den Körper der Serben-Katica abzulegen. Sie war die vorläufig Letzte auf unserem Friedhof gewesen. Eine Kugel in die Schläfe aus nächster Nähe, es war nur wenig Blut geflossen.
Sie lag unweit der Gruft der Familie Damas, wo ich mich jetzt befand, gleich bei der Friedhofsmauer, die unter dem Neuschnee kaum noch sichtbar war. Man hatte sie und ihre Eltern zuerst begraben, erst danach war den Leuten eingefallen, dass die Serben nicht hierhergehörten, sondern zu den Orthodoxen. Ein kollektiver Aussetzer, fand man und erklärte ihn sich mit den Wirren des Krieges. «Kein Christ bricht ein frisches Grab wieder auf», jammerte der Totengräber. «Das brauchst du gar nicht zu tun. Wir haben sie umgebracht, bei uns soll sie ruhen», fand Pfarrer Schulz.
Denn wer sie erschossen hatte, waren nicht die Russen, sondern der letzte deutsche Offizier, kurz bevor er mit seinen Soldaten abgezogen war. Wenn es für mich mit meinen achtzehn Jahren bis dahin so etwas wie Liebe gegeben hatte, dann für die Serben-Katica. Sie war ein schmächtiges Mädchen, kaum zu glauben, dass jemand so schmächtig sein konnte. Außer ich vielleicht.
Ich zitterte am ganzen Körper, das Hemd und die Jacke nutzten nicht viel gegen die Kälte. Ich hatte jene Stelle vor vielen Jahren entdeckt. Den Deckstein der Gruft konnte sogar ich zur Seite schieben und dann die wenigen Treppen hinuntersteigen, wo man neben den drei Särgen genugPlatz fand, um zu kauern. Es war ein Grab für vier, aber ein Platz war übrig geblieben, als ob der Besitzer nach seinem Tod in der Ferne nicht mehr den Weg nach Hause gefunden hatte. Dort also hatte ich meine Kerze angezündet, die kaum Licht oder Wärme spendete, und wartete nun, dass man mich nach dem Abgang der Russen wieder ins Haus holte.
* * *
Wir waren in September nach Triebswetter zurückgekehrt, weil in Temeschwar die Kämpfe angefangen hatten. Da die Stadt sogar nach der Zerstörung des Bahnhofs durch alliierte Flieger im Sommer ein wichtiger Eisenbahnknoten geblieben war, wollten die Deutschen sie zurückerobern.
Großvater und ich waren seit Langem von Vater nach Temeschwar verbannt worden, und die Eltern kamen jedes Jahr im August, nach der Erntezeit, für wenige Wochen hinzu. Sarelo, Raminas Sohn, hatte uns in der ganzen Zeit wöchentlich Lebensmittel von unserem Hof gebracht, die man auf dem städtischen Markt längst nicht mehr fand. Für die Strecke brauchte er mit dem Pferdekarren einen halben Tag. Weil Vater Einbrecher fürchtete oder die Armee, die inzwischen viele hungrige, aber bewaffnete Mäuler zu stopfen hatte, befahl er ihm, erst bei Einbruch der Dunkelheit einzutreffen.
Unser Haus stand ein wenig abseits, sodass Sarelo zuerst eine Zeit lang den Schienen der Elektrischen folgte, dann in eine kurze, schlecht beleuchtete Straße einbog, an deren Ende er aufs freie Feld fuhr. Von dort aus hatte er nur noch wenige Hundert Meter bis zu uns, vorbei an der fensterlosen Rückseite der Häuser. Die Häuser kehrtendem Feld den Rücken zu, eine letzte Bastion der Stadt gegen das unwirtliche Umland voller Gestrüpp. Wie Triebswetter stand auch Temeschwar offen für jeden, der es erobern wollte. Die Türken, die Habsburger und demnächst die Russen.
Wenn Sarelo dann vor unserem Tor im Josefstadt-Viertel anhielt, eilten wir hinaus, um den Karren in den Hof zu ziehen. Der Neid der Nachbarn war uns sicher, man kannte die Obertins nach wie vor, und Vater galt als unangenehmer, aber erfolgreicher Geschäftsmann. Auf dem Karren, verborgen unter Decken und Planen, lagen Säcke voller Mehl und Kartoffeln, dazu geschlachtete Schweine oder Kälber. Wir wurden vom Abladen immer blutig.
Doch je älter und gefräßiger der Krieg wurde, desto weniger blieb für uns übrig. Desto leerer war der Karren. Die Straßen waren mit Soldaten verstopft – die einen zogen sich zurück, die anderen irrten ziellos umher –, die alle denselben alten Hunger kannten. Sie hätten kaum einen Karren passieren lassen, der mit solchen Leckerbissen beladen war.
Also war Sarelo zuletzt zwar immer noch auf Besuch gekommen, um vom Vater Instruktionen für Nea Grigore, den Verwalter, einzuholen, aber mehr als ein paar Eier, zwei, drei Hühner und etwas Speck hatte er nicht mehr bringen können. Umso größer war unsere Freude, als er, einen Tag bevor der deutsche Angriff einsetzte,
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