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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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ihrem heruntergekommenen Haus auf dem Zigeunerhügel erzählt hatte.
    Ihr verdankte ich es, dass ich nicht nur vor Vater, sondern nun auch vor den Russen gern unter die Toten flüchtete. Und ich war geübt darin, lange dort auszuharren. Da würden die Russen eher vor Kälte blau anlaufen, als dass sie mich finden würden. Auf ihrem Weg nach Berlin würde ich nicht auf ihrem Speiseplan stehen. So viel war für mich sicher.
    Der Gröfaz war gefährlicher als alle Kreaturen aus Raminas Erzählungen gewesen. Er hatte eine Stimme, die, wenn er sie zum Poltern brachte, uns wie ein Liebesbekenntnis oder ein plötzlich auftretendes Fieber durchdrungen hatte. Jeden Sonntag nach der Messe stellte der Pfarrer das Radiogerät auf einen Stuhl vor seine Pfarrei an der Lothringergasse. Denn zuerst kam Gott, aber gleich danach der größte Feldherr aller Zeiten. Einer der Zuhörer stieg auf den Baum und installierte dort den Lautsprecher. Der Weg war nun frei für jene Stimme, die vielleicht die stärkere Waffe war als jede Messerschmitt oder Stuka. Sie rollte mächtig und unaufhaltsam entlang der Höfe derLothringer- und der Hauptgasse, bog in die Neroergasse und fand zum Schluss auch die allerletzten Stuben am Dorfausgang.
    Pfarrer Schulz drehte laut auf, wie bei einer Fußballübertragung. Der Führer und der Fußball waren die beiden wirklich lauten Dinge meiner Kindheit. Im Vergleich zu ihnen war die große Glocke unserer Kirche ein Monument an Rücksichtnahme. Der Gröfaz hatte es geschafft, auch in den entferntesten Stuben als Foto an der Wand zu hängen oder eingerahmt auf der Kommode zu stehen. Gleich neben den ebenfalls eingerahmten Großeltern, Hochzeiten und Taufen. Ein Mitglied der Familie auch er, herausgeschnitten aus den
Signal
-Heften oder der
Pollerpeitsch
-Zeitschrift. Dem deutschen Winterhilfswerk abgekauft, als Beitrag zu einem Krieg, der in unserem Namen geführt wurde.
    «Was soll dieser Krieg uns schon bringen?», hatte Vater entrüstet gefragt. «Wieso brauchen wir russische Erde, wenn wir hier mehr als genug haben? Und sie gehört uns schon.» Doch auch er hatte den Führer aufgehängt, in einem billigen Rahmen und ohne große Überzeugung. «Für alle Fälle», wie er sagte. «Man weiß nicht, wer einem ins Haus kommt.» Doch ich glaube, dass er keinen anderen Gröfaz neben sich ertrug.
    Wenn die Kriegsberichte aus Belgrad oder Berlin aus dem Baum ertönten, wie wenn sie vom Himmel fielen, und das Ganze mit
Die Fahne hoch
abgerundet wurde, dann hatten sich die Jungen längst um den Maulbeerbaum gesammelt und sangen mit. Manche trugen noch kurze Hosen, andere bereits die neue Uniform. Kein Rocksaum einer unserer Frauen hätte sie mehr gelockt als das
Blaupunkt
-Radiogerät des Pfarrers.
    Doch von Mal zu Mal lichteten sich ihre Reihen, der Erste, der zur Dorfgrenze gebracht worden war, war Seppl, der Sohn des Wirtes, der Zweite Johannes, der Sohn des Müllers, der Dritte Neper. «Du bist ein alter Mann. Du brauchst nicht zu gehen», hatte ihm Vater gesagt. «Für unsere Sache ist niemand zu alt», befand dieser und schulterte seine Waffe, dann wurde er zur Zughalte gebracht, draußen auf freiem Feld.
    Neper war auch einer der Ersten, die mit den Füßen voran zurückkamen, kaum hatte man angefangen, ihn zu vermissen. Die große Glocke läutete für ihn ganz allein. Das war immer so, wenn die Toten mit dem Zug oder dem Lastwagen zurückgebracht wurden. Sie wurden vor dem Dorf ausgeladen und kamen über die Dorfgrenze, begleitet von den langsamen, gleichmäßigen Schlägen der Glocke. Die Sargträger konnten ihre Schritte nach ihr richten. Sie war der Taktgeber unserer Traurigkeit.
    Der Tote wurde nach Hause gebracht, sein Sarg auf zwei Stühlen im Hof abgesetzt. Waren es die Toten der Rumänen – denn bei uns lebten auch einige rumänische Familien –, dann achtete man darauf, dass keine Katze unter den Sarg lief, sonst würde die Seele des Toten keinen Frieden finden und die Lebenden heimsuchen. Unsere Toten wurden auf die Felder gebracht, damit sie sich ein letztes Mal von ihrer Erde verabschieden konnten. Dann irrte die Menschenschar, geplagt von der Hitze oder vom heftigen Banater Wind, mit dem Pfarrer an ihrer Spitze herum. Manchmal im Sommer, wenn das Korn hoch stand, schien der Sarg von Weitem wie ein Schiff auf dem Kornfeld zu segeln.
    Ich saß also an jenem Januartag 1945 gekrümmt undmit angezogenen Beinen da und wartete darauf, dass dieser Sturm, der unerwartet über uns hereingebrochen war, sich

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