Jacob beschließt zu lieben - Roman
von ihnen zeigte auf den Tisch, dann auf Vater. «Ceas», sagte er, und diesmal verstanden wir sofort, weil die Rumänen dasselbe Wort für Uhr haben. Sie hielten Vater offenbar für einen Uhrenflicker. Einen Uhrenflicker in Unterhosen und mit zwei Flaschen Schnaps beladen, der aus dem Nichts aufgetaucht war.
In einem gewissen Sinn hatten sie auch recht, denn Vater reparierte mit Leidenschaft alles, was ihm in die Hände fiel: Uhren, Fotokameras, Radiogeräte. Mutters goldene Uhr hatte er oft auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Selten war er so ruhig und zufrieden, wie wenn er zusammen mit Sarelo in unserer Wohnstube in Triebswetter an etwas bastelte.
Der Russe zog seinen Mantelärmel hoch, an seinem Arm steckten drei Uhren, die er irgendwem auf seiner Diebestour durch Europa abgenommen hatte. Er zog eine von ihnen ab, hielt sie ans Ohr, schüttelte sie, dann überreichte er sie Vater. Mit unserem Schnaps in den Taschen verschwanden sie wieder, gingen fröhlich übers Feld zum Akazienwäldchen.
Nachdem die Arbeit am Schwein erledigt worden war, setzte sich Vater für den Rest des Tages an den Tisch und reparierte die Uhr des Russen, doch dieser holte sie nie wieder ab. Denn die seltsame Pflanze begann bald, ihre Samen gegen den Himmel zu schleudern, ein Regen von Katjuschas, der über dem Schager-Viertel niederfiel. DieKatjuschas hatten einen unverkennbaren Ton, der mich so durchdringen konnte wie später vielleicht nur noch die Kälte. Oder der Hunger.
Die Deutschen antworteten, ihre Geschosse flogen über unsere Dächer hinweg und landeten im Feld oder sogar in den Vorgärten. Die Explosionen wurden zahlreicher, unser Haus wurde davon erschüttert, und mehrere Fensterscheiben gingen in die Brüche. Dann wurden nur ein paar Straßen von uns entfernt mehrere Häuser getroffen, und die Flammen schossen in die Höhe. Es war so lärmig, dass wir nicht mehr verstanden, was wir sagten. Es wurde Zeit, in den Schutzraum zu flüchten.
Großvater hatte ihn in den letzten anderthalb Jahren gebaut, als er und ich praktisch allein dort gewohnt hatten. Mit dem Notwendigsten beladen, Wasser, Kerzen, Decken und Kruzifix, liefen wir geduckt durch den Garten, stiegen in das dunkle Loch hinab und verschlossen die Luke. Mutter zündete eine Kerze an, jeder neue Einschlag brachte die Flamme zum Flimmern. Es war ein Grab auf Zeit, doch wir wussten, dass in jedem Augenblick eine Granate auf uns fallen konnte.
Mutter betete im Stillen, ihr Murmeln bildete den Hintergrund für das Getöse draußen oder dieses den Rahmen für ihren geflüsterten Gott. Es war zu wenig Platz da, als dass sie sich vor dem Kruzifix hinstrecken konnte, wie sie es sonst oft machte.
Vater und Großvater redeten darüber, wann genau sich die deutsche Niederlage abgezeichnet hatte, ob schon in Stalingrad oder später. Ob der Gröfaz wirklich der größte Feldherr aller Zeiten gewesen war. «Der größte Feldherr mein Arsch!», fluchte Vater, während draußen weitere Fenster zerbrachen und man das kalte Zischen einerneuen Granate hören konnte. Es dauerte lange, bis sich eine nicht weniger beunruhigende Stille über alles legte. «Morgen fahren wir nach Hause, sonst schlachten uns die einen oder die anderen ab», sagte er.
Vaters Zuhause war immer in Triebswetter gewesen, dort, wo er nach dem Rechten schauen konnte und unsere Besitzungen vermehrt hatte wie Jesus die Fische und die Brote. In der Stadt hatte er sich unnütz und unbeholfen gefühlt, außer wenn er seine Geschäfte am Hafen oder in den Kneipen rund um den Josefsplatz abwickelte.
Zwei Meter unter der Erde, inmitten des größten Durcheinanders meines jungen Lebens, dachte ich aber weniger an den Gröfaz oder die Katjuschas. Die Aussichten, nach Triebswetter zurückzukehren, waren mehr als erfreulich. Ich flüsterte Sarelo auf Rumänisch zu: «Wie geht es Katica?», doch er wandte sich ab, und als ich ihn am Arm fasste, wurde er wütend und drückte mich von sich weg. «Woher soll ich wissen, wie es ihr geht?», brummte er. «Ich kümmere mich nicht um deine Miezen.»
Als die Waffen in der Nacht schwiegen, schlichen sich Vater und Sarelo heraus und begruben im Garten unser altes deutsches Leben. Ob das neue passen würde, wussten wir nicht. Auf ihr Zeichen hin kehrten wir ins Haus zurück und machten uns für die Reise bereit. In aller Frühe standen wir in der Stube und begutachteten ein letztes Mal unsere Säuberungsaktion. «Uns trifft doch keine Schuld», murmelte Mutter. «Die
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