Jacob beschließt zu lieben - Roman
aber man lernt zu überleben. Bei mir wirst du sicher sein, Mädchen. Übrigens, ich heiße Caspar.An den Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern. Hast du einen?»
«Aubertin.»
«Das klingt gut. Das klingt sogar für mich gut. Französisch?», fragte er.
«Ja.»
«Wieso sprichst du dann Lothringisch-Deutsch?»
«Es hat hier vor dem Krieg fast nur deutsche Lothringer gegeben.»
«Wovon habt ihr gelebt?»
«Vom Salz, aber seitdem die Salzgewinnung wegen des Krieges eingestellt worden ist, haben wir von nichts gelebt.»
«Auch wir haben früher davon gelebt. Vater hat in Moyenvic gearbeitet», sagte Caspar.
«Meiner auch.»
«Na, so was! Wie lange habt ihr schon hier auf meinem Hof gelebt?»
«Auf deinem Hof?», fragte sie erstaunt.
«Genau. Es war mal der Hof meiner Eltern, und jetzt ist es meiner. Sie sind bei einem Überfall getötet worden. Vater ist in den Brunnen geworfen worden.»
Marie war verblüfft, sie riss die Augen auf. Als sie sich fassen konnte, sagte sie: «Wir leben hier seit Generationen. Ich bin hier geboren worden und vor mir Vater. Außerdem gibt es hier keinen Brunnen. Es gibt insgesamt nur zwei. Einen im Dorf, von wo ich immer Wasser geholt habe, und einen mit salzigem Wasser weit außerhalb, bei einem verlassenen Hof.»
Ein heftiger Regen setzte mit bleiernen Tropfen ein, als ob der Himmel sich an der Erde rächen wollte. Caspar irrte auf dem Gelände umher, das er für sein Land gehaltenund für das er getötet hatte. Er konnte nicht aufhören, den Brunnen zu suchen. Es hatte doch alles übereingestimmt: die Lage des Hofes, der Hügel, nur nach dem Brunnen hatte er vergessen zu schauen.
Vielleicht hatte Maries Vater mit seinem eigenen Vater Schulter an Schulter gearbeitet. Er hatte sie nun alle sinnlos erschossen. Ja, auch solche Gedanken beschäftigten ihn, aber so was für ein Zeichen von Schuld zu halten wäre zu viel. Außerdem wären sie bald alle an der Pest gestorben, wenn er nicht aufgetaucht wäre, dachte er. Er kehrte durchnässt in die Scheune zurück, machte ein Feuer, zog sich unter den diesmal neugierigen Blicken des Mädchens aus und versuchte, sich wieder aufzuwärmen.
«Bist du lutherisch oder katholisch?», fragte er nach einer Weile.
«Katholisch», erwiderte sie. «Jetzt binde mich los, ich werde nicht mehr weglaufen.»
Das war seit Langem endlich eine gute Nachricht. Er lächelte selbstzufrieden, weil er sich für angekommen hielt. Zwanzig Jahre lang sollte er keinen Grund mehr haben, daran zu zweifeln.
3.
Kapitel
D ie Toten waren wie immer brav und gastfreundlich. Ich saß seit einer Stunde unter ihnen. Es war nicht das erste Mal, dass sie mir Schutz gewährten. Jedes Mal, wenn Vaters Wut überbordet war, war ich bei ihnen willkommen gewesen. Aber ich hatte sie niemals dringender gebraucht als an jenem 14. Januar 1945.
Sie hatten immer darauf geachtet, mich nicht zu erschrecken, denn ich war ihr treuester Besucher. Noch vor den alten Frauen mit ihren hundertfach gefalteten Gesichtern, wie zerknülltes Bonbonpapier. Noch vor den jungen Frauen, die sich im letzten Jahr immer öfter auf dem Friedhof einfanden, um ihre frischen Toten zu beweinen.
Ihre Männer wurden aus einem Krieg zurückgebracht, den wir noch vor Kurzem zu gewinnen glaubten. In den eigens dafür gestärkten deutschen Uniformen waren sie bis an die Dorfgrenze begleitet worden. Dort wurden sie umarmt, geküsst, gestreichelt und für unsere Sache in die Welt entlassen. Nicht gestoßen, denn das war nicht nötig.
Sie glitten aus freien Stücken hinüber. Sie gierten danach, gegen Russland zu ziehen, spätestens seit dem Sommer 1943, als uns die rumänische Regierung zugestanden hatte, dass unsere Sache deutsch und nicht mehr rumänisch war. Sie hatten sofort die schlecht sitzenden Uniformen der schwachen rumänischen Armee abgelegt, die nicht einmal Mittel hatte, um alle ihre Soldaten zu beschuhen.Dann hatten sie die feinen deutschen Uniformen ausgepackt und angezogen, die wie angegossen saßen. Sie sah fein darin aus, die Triebswetter Jugend, ein wenig steif, aber fein. Die Uniformen kleideten ihren Eifer gut.
Dass unsere Sache deutsch war, wussten wir vom
Gröfaz
selbst, dem größten Feldherrn aller Zeiten, wie ihn die Erwachsenen nannten. Einen Mann, den ich lange – bis die ersten Fotos von ihm in unserem Dorf auftauchten – nicht gesehen hatte, sodass er ebenso gut eine Erfindung hätte sein können. Noch eine Geistergeschichte von Ramina, die mir solche viele Jahre lang in
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