Jaeger
als wir beide zusammen in einem Monat verdienen.«
Deepak sah den Tisch an und schnitt eine Grimasse. »Geschmack kann man mit Geld aber nicht kaufen«, erwiderte er.
Die Tür öffnete sich, und herein kam eine zierliche Frau in einem pinkfarbenen Nicki-Jogginganzug. An den Füßen trug sie Sportschuhe, die niemals die freie Natur oder auch nur das Innere eines Fitnessstudios gesehen hatten. Sie war ungeschminkt und hatte sich die Haare straff zurückgebunden. Sie ging rasch zum freien Sofa, wo sie sich mit kerzengeradem Rücken niederließ und ihre Besucher mit einem geschäftsmäßigen Blick taxierte.
»Ich bin Dee Sloane. Sie wollten meinen Bruder Michael sprechen, aber ich fürchte, der ist momentan unabkömmlich. Und Sie sind?«
Jessie und Deepak zeigten ihre Dienstausweise und nannten ihre Namen.
»Und es geht um den Tod eines unserer ehemaligen Mitarbeiter?«
»Das ist richtig«, bestätigte Jessie. Sie würde die Führung in der Befragung übernehmen. »Es gibt da einige Dinge, über die wir gerne mit Ihnen sprechen würden.«
Dee Sloane runzelte die Stirn. »Ist es was Ernstes? Sollte ich einen Anwalt hinzuziehen?«
»Das liegt ganz bei Ihnen«, erwiderte Deepak so leichthin wie möglich.
Jessie lächelte. »Schauen wir einfach mal, wie weit wir kommen.«
Dee saß da und wartete mit ausdruckslosem Gesicht. Ihre aufrechte Haltung suggerierte Wachsamkeit, aber zugleich innere Ruhe. Offenheit. Sie vermittelte den Eindruck, als warte sie ganz gelöst auf das, was da kommen mochte. Aber Jessie ließ sich davon nicht in die Irre führen. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, Körpersignale zu deuten, und sie sah sofort, dass Dee Sloane sich sehr unwohl fühlte. Um nicht zu sagen, angespannt war.
Und da war noch mehr. Sie kannte die Frau erst seit wenigen Sekunden, und doch war sie ihr auf Anhieb unsympathisch gewesen. Normalerweise achtete sie darauf, nicht vorschnell über andere zu urteilen, insbesondere wenn es um ihren Beruf ging. Doch manchmal spürte sie etwas, wenn sie einem Pädophilen oder einem gewalttätigen Ehemann gegenübersaß – sie sandten unangenehme Schwingungen aus, selbst oder gerade wenn sie sich freundlich und unterwürfig verhielten. Sie musste sich dieses Gefühl immer erst bewusst machen, damit sie sich davon nicht in ihrer Arbeit beeinflussen ließ. Dieselbe negative Energie ging von Dee Sloane aus. Vielleicht stimmte die Chemie einfach nicht zwischen ihnen, oder es lag an ihrer Persönlichkeit, aber irgendetwas an dieser Frau kam ihr unheimlich vor. Jessie warf Deepak einen Blick zu, um festzustellen, ob es ihm ebenso ging, doch der Blick ihres Partners war vollkommen neutral.
Okay , dachte Jessie. Der Kater war vergessen, sämtliche Gedanken an die vergangene Nacht hatte sie aus ihrem Kopf verbannt. Sie war hochkonzentriert. Bereit für ihren Job.
63 Marina konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Nicht aus Sandros Mund. Er war doch ihr Bruder. Lanzo hätte sie so etwas ohne weiteres zugetraut, aber nicht Sandro. Er war immer der Anständigere von beiden gewesen. Der, zu dem sie am ehesten Zugang gefunden hatte. Anscheinend hatte er sich verändert.
»Was? Aber …«
»Ich hab nein gesagt.«
»Aber … wieso? Ich habe dir doch erzählt, was passiert ist. Mein Kind. Sie haben meine Tochter entführt …«
»Und sie wollen, dass du ein psychologisches Gutachten über irgendeinen Bekloppten schreibst, und dann kriegst du sie zurück?«
Sie nickte.
Er zuckte mit den Schultern. »Na, dann mach das doch einfach. Wo liegt das Problem?«
»Was habe ich dir denn eben gerade erzählt? Da lag eine Leiche, und Josephina ist verschwunden …«
»Und wieso überhaupt du? Wieso sollten sie sich die Mühe machen, dein Kind zu entführen, um dich dazu zu bringen, dieses Gutachten zu schreiben? Warum haben sie dich nicht einfach angerufen?«
»Das weiß ich nicht. Da muss noch irgendein anderer Grund dahinterstecken.«
»Und du glaubst, ich kann dir helfen?«
»Ja! Du kennst doch alle möglichen Leute. Also gut, vielleicht nicht die Leute, die dafür verantwortlich sind, aber … aber sie müssen doch irgendjemandem davon erzählt haben. Außer ihnen muss doch noch jemand von der Sache wissen.« Sie lehnte sich vor und fasste ihn am Arm. »Bitte … bitte hilf mir. Meine Tochter ist verschwunden, mein Mann ist …« Sie schüttelte den Kopf. Daran wollte sie gar nicht denken. »Bitte … Du bist alles, was ich habe.«
Sie sahen einander in die Augen. Er
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