Jaeger
Gestrüpp überwucherte Beton und Asphalt voller Risse und riesiger Schlaglöcher, in denen dauerhaft das Wasser stand. Die Häuser standen dicht gedrängt. Unter ihnen gab es sogar einige halbwegs ansehnliche Exemplare, die jemand im Versuch, dem fortschreitenden Verfall Einhalt zu gebieten, sorgsam gepflegt hatte. Doch diese Versuche glichen einsamen Schwimmern, die vergeblich gegen eine Strömung ankämpfen.
Marina war einige Jahre zuvor das letzte Mal in Jaywick gewesen, zur Eröffnung der Martello-Tower-Kunstgalerie. Der Kleidung und den Gesprächen auf der Vernissage nach zu urteilen, stammte kein einziger der Gäste aus Jaywick selbst. Auf der Fahrt hatte sie sich beim Anblick der verbarrikadierten Ladenlokale, Cafés und Pubs gefragt, wer um alles in der Welt hier freiwillig wohnen würde.
Jetzt wusste sie es. Ihr Bruder.
»Du bist ja wach.«
Alessandro stand am Fuß ihres Betts und hielt einen dampfenden Becher in der Hand. Als er sich neben sie setzte, spürte sie, wie das Bett unter seinem Gewicht fast zusammenbrach. Er reichte ihr den Becher.
»Hier, trink.«
Sie hob ihn an die Lippen und probierte einen Schluck. Es schmeckte scheußlich.
»Was ist das?«
»Soll eigentlich Tee sein.« Er zuckte mit den Schultern. »Dieser ganze Haushaltskram war noch nie so mein Ding.« Sein Blick war auf den Teppich geheftet. »Musst ihn ja nicht trinken, wenn du nicht willst.«
Marina stellte den Becher ab, richtete sich auf und sah sich um. Sie saßen im Wohnzimmer eines der Ferienbungalows. Sie hatte auf einem Bettsofa geschlafen. Laken und Decken waren zerschlissen und sahen nicht gerade frisch aus. Die Möbel schienen wahllos zusammengesammelt, statt bewusst angeschafft worden zu sein. Die kleine Küchenzeile rechts sah aus wie ein Biowaffen-Versuchslabor der Al Kaida. Es roch feucht und staubig und nach einsamem, verzweifeltem Mann.
Sie merkte, wie Alessandro sie musterte. Wusste, dass er das Zimmer durch ihre Augen wahrnahm. Seinem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck nach dachte er wohl ähnlich darüber wie sie.
»So«, meinte er schließlich. »Was führt dich hierher?« Sein Blick war scharf, und sein abweisender Tonfall legte sich wie eine harte Schale um seine Worte. »Muss ja was Ernstes sein. Ich dachte schon, du hättest meine Adresse verloren.«
Marina reagierte nicht auf den Vorwurf, auch wenn sie innerlich geradezu auf einen Streit brannte. Er war ihr Bruder und wusste, wie er sie provozieren konnte. Genau wie sie ihn. Stattdessen nippte sie noch einmal an ihrem Tee und schaffte es sogar, ein wenig davon hinunterzuschlucken. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, war er gar nicht so schlecht, fand sie, auch wenn sie gleichzeitig hoffte, dass sie sich niemals an so etwas gewöhnen würde.
Sie stellte den Becher wieder auf den Boden, ohne sich die Cartoon-Blondine mit den unnatürlich großen Brüsten, die darauf abgebildet war, näher anzusehen. Ihr fiel auf, dass die Innenseite des Bechers unzählige braune Ringe aufwies – wie ein jahrhundertealter Baum. Sie sah zu ihrem Bruder hoch und seufzte. Sie war wach und dennoch müde. »Wo soll ich anfangen?«
»Am Anfang.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Halte ich dich von irgendwas ab?«
»Muss nachher noch was erledigen. Erzähl mir, was passiert ist. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass meine Schwester auf meiner Türschwelle zusammenklappt.«
Also erzählte sie es ihm. Zunächst stockend, dann zunehmend fließender, je tiefer sie in die Geschichte eintauchte. Sie begann mit dem Cottage, dem geplanten Kurztrip über Ostern. Der Brand, dann das Krankenhaus. Das Handy. Love Will Tear Us Apart . Die Anrufe.
»Ich habe versucht, mit ihnen zu reden wie mit normalen Menschen, damit sie mich auch als Menschen sehen …« Ein Stoßseufzer. »Ich habe es wirklich versucht.«
Sie fuhr mit ihrem Bericht fort. Das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei im Hotel. Der Teil gefällt Sandro garantiert , schoss es ihr durch den Kopf. »Dann habe ich an einer Tankstelle angehalten. Und sobald klar war, wohin ich als Nächstes fahren musste, habe ich versucht, einen Hinweis für … für die Polizei zu hinterlassen.«
Er schnaubte. »Wozu denn das?«
»Damit mir jemand hilft.«
»Ich dachte, das haben sie dir verboten.«
»Ja, aber ich war ja schon auf dem Weg zu ihnen. Zu dem Ort, an dem Josephina festgehalten wurde. Deswegen dachte ich, wenn es mir gelingt, der Polizei eine Nachricht zu übermitteln, würden sie kommen, während
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