Jäger: Thriller (Ein Marina-Esposito-Thriller) (German Edition)
ihr nicht. Sie fuhr herum, um den Fremden anzuschreien, er solle sie gefälligst loslassen.
»Ganz ruhig, Marina«, hörte sie eine vertraute Stimme mit walisischem Einschlag an ihrem Ohr. »Ich bin bei Ihnen, Sie sind jetzt in Sicherheit.«
DCI Gary Franks.
Panisch drehte sie sich wieder nach vorn.
Sandro und Josephina waren von der Menge verschluckt worden und nicht mehr zu sehen.
88 »Die lässt sich aber Zeit«, meinte Mickey.
»Vielleicht hat sie gerade ein heißes Date«, sagte Anni von ihrem Platz auf dem Schreibtisch aus, wo sie noch immer saß und mit den Beinen schlenkerte.
Mickey wartete noch eine Weile. »Nicht mal die Mailbox geht ran. Komisch.«
»Findest du? Es ist Sonntagabend. Ostersonntagabend. Vielleicht ist sie zu Hause. Im Gegensatz zu uns sollen manche Menschen ja durchaus noch ein Leben außerhalb der Arbeit führen.«
Endlich nahm jemand ab. Mickey hob die Hand, um Anni zu signalisieren, sie solle still sein.
»Hi. Jessie?«
»Hi, Jessie«, flötete Anni gerade so laut, dass man es am anderen Ende der Leitung hören konnte.
Mickey machte eine ungehaltene Handbewegung. »Hier ist Mickey Philips, ich wollte bloß –«
Er hielt mitten im Satz inne, weil ihn eine Stimme am anderen Ende unterbrach.
»Es ist zu spät, Mickey Philips. Wer auch immer Sie sind, es ist zu spät …«
Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Anni hatte sich schon eine spitze Bemerkung zurechtgelegt, doch als sie Mickeys Gesichtsausdruck sah, blieb sie ihr im Halse stecken.
»Scheiße«, sagte er. »Wir haben ein Problem.«
89 »Nein!«, schrie Marina und schüttelte Franks’ Hände ab. »Meine Tochter, meine Tochter ist da drüben!« Sie wand sich aus seinem Griff und kämpfte sich weiter vorwärts. Er blieb ihr auf den Fersen.
Mittlerweile war in der Scheune das Chaos ausgebrochen. Franks und sein Team hatten sich als Polizisten zu erkennen gegeben, und nun drängte die Menge in heller Panik dem Ausgang zu. Der Fight war vergessen. Jetzt ging es nur noch darum, nicht wegen der Teilnahme an einem illegalen Boxkampf verhaftet zu werden.
Marina drängte sich mit neu erwachter Kraft durch die Menge. Sie wünschte nur, sie hätte diese Kraft schon einige Minuten früher gehabt. Die Reihen lichteten sich, und sie kam schneller voran. Sie erreichte die Stelle, wo Josephina gestanden hatte. Ihr Bruder und Stuart Sloane wurden soeben in Handschellen von Polizisten abgeführt. Von der Frau, mit der sie telefoniert hatte, fehlte jede Spur …
»Das ist … Das da ist mein Bruder!«, rief sie, aber niemand schenkte ihr Gehör.
Sie sah sich um, schaute verzweifelt in jedes Gesicht. Suchte hinter den Tribünen, hinter jedem Strohballen. Nichts. In wachsender Verzweiflung stürzte sie zu Franks.
»Wo ist … Wo ist meine Tochter?«
Er gab eine Antwort, doch sie hörte sie gar nicht. Wie von Sinnen suchte sie weiter. Zerrte alles auseinander, drehte jeden Stein um. Die Frau war fort.
Und Josephina auch.
Vierter Teil
Ostermontag
90 Mitternacht. Und aus Ostersonntag wurde Ostermontag.
Michael Sloane lief in seinem Hotelzimmer auf und ab, soweit die beengten Verhältnisse dies zuließen. Das Holiday Inn am Stadtrand von Colchester war nicht gerade die Art von Hotel, die sie normalerweise bevorzugten, aber genau das war der Sinn der Sache. Hier, hatte er Dee erklärt, würde garantiert niemand nach ihnen suchen. Nach einer knappen halben Stunde auf dem Zimmer konnte Dee ihm nur recht geben.
Das Zimmer war klein, anonym und trist. Wahrscheinlich passt es genau zu den Leuten, die hier absteigen , dachte sie, bevor sie von einer Erinnerung eingeholt wurde, die sie schaudern ließ. Ihre Herkunft war noch ungleich trostloser als dieses Zimmer hier. Aber jetzt war sie jemand anders, und so sollte es auch bleiben.
Sie saß schweigend am Fußende des Betts, die Füße über Kreuz, die Arme hinter ihr aufgestützt, und sah Michael beim Umhergehen zu. Wenn er so gelaunt war wie jetzt, war es klüger, sich ihm nicht zu nähern oder ihn anzusprechen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für ihre kleinen intimen Machtspiele. Wenn er diesen Ausdruck in den Augen hatte, wenn er den Rücken so steif machte, waren das Zeichen dafür, dass er ihr weh tun würde, wenn sie auch nur versuchte, ihn abzulenken oder die Situation als Ausgangspunkt für ein Spiel zu nutzen. Normalerweise mochte sie es, wenn er ihr weh tat. Sie konnte genauso gut austeilen wie er. Aber nicht wenn er so war wie jetzt. Wenn die Wut ihn in ihrer
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