Jäger: Thriller (Ein Marina-Esposito-Thriller) (German Edition)
mucksmäuschenstill war. Dann hörte er auf zu schreien, aber das hieß nicht, dass sie auch aufhörten, ihn zu quälen. Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Stöcke, Tennis- oder Kricketschläger – in ihren Händen wurde alles zu einer Waffe. Sie fesselten und knebelten ihn und drückten brennende Zigaretten auf seiner Haut aus.
Eine große Unruhe erfasste ihn bei der Erinnerung.
Er spürte die Stricke an seinen Handgelenken und wie die Knoten sich zusammenzogen, wenn er versuchte, sich zu befreien. Er hörte das Zischen, wenn die Glut der Zigarette ihn berührte. Roch Nikotin, Rauch, versengtes Fleisch. Sein eigenes Fleisch. Er hörte sich weinen und schluchzen, aber nur in seinem Kopf. All die Schreie, die er nicht rauslassen konnte, weil der Knebel in seinem Mund sie erstickte.
Trauer überkam ihn. Trauer um seine Mutter und um sich selbst.
Er hatte sich so sehr geschämt, dass er seiner Mutter die Narben nie gezeigt hatte. Jahrelang hatte er sie vor ihr versteckt.
Versteckt. Versteckspielen. Er war immer derjenige, der sich verstecken musste. Und sie fanden ihn jedes Mal. Aber sie hatten ihre eigenen Spielregeln. Wenn sie ihn fanden – was immer der Fall war –, musste er sich freikaufen. Mit einer Art Mutprobe. Und diese Mutprobe sah immer gleich aus: Er musste sich von ihnen in den Keller sperren lassen.
Er hasste den Keller. Wenn er nur das Wort »Versteckspielen« hörte, wusste er bereits, wo es für ihn enden würde: im Keller. Aber er konnte nicht nein sagen. Er hatte es ein paar Mal versucht, und da hatten sie ihm weh getan.
Der Keller lag ganz hinten im Haus, direkt am Fluss. Das Wasser reichte bis an die Grundstücksgrenze, und sie hatten dort ein Boot festgemacht. Seine falschen Geschwister hoben die Falltür zum Keller an, und er musste die hölzerne Stiege hinunterklettern. Dann schlugen sie die Falltür über ihm zu und gingen weg. Oft ließen sie ihn stundenlang dort unten allein, ein paar Mal vergaßen sie ihn sogar ganz. Im Keller war es kalt und dunkel und feucht. Es gab kein Licht, weder elektrischen Strom noch Kerzen. Nur Ratten und das träge Gluckern des Wassers.
Wenn er die Wände berührte, war seine Hand danach manchmal nass. Seine Füße auch. Wenn die Flut kam, ächzten die hölzernen Wände unter dem Druck des Wassers, manchmal sickerte sogar hier und da ein dünnes Rinnsal durch die Bretter. Zuerst hatte er schreckliche Angst gehabt, weil er dachte, die Wände würden nachgeben, das Wasser würde hereinstürzen und er würde ertrinken. Mit der Zeit gewöhnte er sich daran. Er konnte sogar anhand der Gezeiten ausrechnen, wie lange seine Gefangenschaft schon andauerte. Trotzdem fürchtete er den Keller, und ihm war jedes Mal nach Weinen zumute.
Er schüttelte den Kopf, um die anderen Erinnerungen zu verjagen, die unaufhaltsam über ihn hereinbrachen. Manchmal rissen ihm seine falschen Geschwister die Kleider vom Leib, bevor sie ihn fesselten. Sie zogen ihm mit Gewalt die Beine auseinander. Er kämpfte, versuchte verzweifelt sich gegen sie zu wehren oder ihnen zu entwinden, aber es war zwecklos. Sie waren zu zweit und hatten beide mehr Kraft als er. Vor allem die falsche Schwester. Sie war stärker, als sie aussah, und oft die Bösartigere der beiden.
Sobald er dann nackt und wehrlos war, fingen sie an, ihn zu quälen. Es waren andere Schmerzen als die von den Zigaretten. Hinterher hatte er immer Angst, seinen eigenen Körper zu berühren. Sie steckten verschiedene Gegenstände in seine Körperöffnungen. Lachten über ihn, wenn er sie anflehte, damit aufzuhören, oder wenn er zu schreien versuchte. Dann wurden sie nur noch brutaler.
Wenn sie so etwas taten, erregte es sie immer. Sie zogen sich dann vor ihm aus und fassten sich gegenseitig an. Sie lachten über seine Angst und seinen Ekel. Rieben sich an seinem Gesicht. Zwangen ihn, sie in den Mund zu nehmen. Zwangen ihn …
Er schloss die Augen. Nein. Nein …
Das Gefängnis. Denk ans Gefängnis. Wie er in seiner Zelle saß. Ganz allein. In seinem Kopf. Nur er. An seinem eigenen Ort. In seiner eigenen Zeit.
Er schlug die Augen wieder auf und sah sich um. Er hatte ganz vergessen, dass er hier war, in diesem Raum. Vor Erleichterung atmete er tief durch. Selbst hier war es besser als da, wo er gerade gewesen war. An diesem Ort in seinem Kopf. Überall war es besser als dort.
Erneut ging sein Blick zum Spiegel. Er wusste, dass sie dahinter standen. Fragte sich, was sie sahen, wenn sie ihn anschauten. Wünschte
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