Jäger
Millimeter
lang und mit bloßem Auge zu erkennen. Sie erinnerten mich an
die Extremophilen, extreme Bedingungen liebende
Archäbakterien oder andere Organismen, die ich vor ein paar
Monaten in der Zeitschrift Science gesehen hatte. Vor allem
ähnelten sie jener Art, die sich gern an den Unterwassergeysiren
ansiedelt und dort an die Unterseiten der hässlichen roten
Pompeji-Würmer heftet.
Der fächerähnliche Organismus war also weder Pflanze
noch Tier und gehörte auch nicht zu einem der drei übrigen
Reiche der modernen Biologie. Jede auf Kolonienbildung angelegte
Zelle ähnelte einer alten Bergbau-Stadt im Wilden Westen: Die
bakteriellen Vagabunden konnten kommen und gehen, wie es ihnen
beliebte. Doch meistens blieben sie. Ich stellte mir die Bakterien
als Bergarbeiter vor, die man aus stadtbekannten Raufbolden
rekrutiert hat: Sie taten ihre Arbeit, würden aber bei
erstbester Gelegenheit (und wenn kein Sheriff in Sicht war) ihren
Vorarbeiter aus dem Verkehr ziehen, die Ingenieure bedrohen und die
reichen Minenbesitzer zur Herausgabe ihrer Goldschätze zwingen.
Klar, dass meine Fantasie wegen des Blutzuckermangels in meinem
Gehirn mit mir durchging…
In dieser Siedlerstadt gab es sicher viel spontane Kooperation.
Aber ebenso sicher konnten die Typen jederzeit die Schießeisen
ziehen und aufeinander ballern – um sich gleich darauf
zurückzuziehen…
… und sich einen hinter die Binde zu gießen. Gemeinsam
und in aller Freundschaft.
Als ich laut auflachte, sahen mich Valerie und Betty aus
müden Augen verständnislos an. Ich warf einen Blick auf die
Uhr: Es war schon früher Abend, halb acht. Seit dem Morgen
hatten wir weder eine Pause gemacht noch irgendetwas gegessen.
Höchste Zeit, Schluss zu machen.
Die Geräte liefen von allein. Der Tank würde alles, was
noch lebte, am Leben halten. Während ich Valeries
vorläufige Liste der aus der Gallertmasse gewonnenen Proteine
betrachtete, schürzte ich die Lippen, als wollte ich mir einen
Kuss abholen.
»Meine Güte«, sagte ich.
»Gut?«, fragte Betty.
»Phänomenal«, erwiderte ich. »Es gibt weder
Zellkerne noch Mitochondrien in diesen Zellen. Sie sind sehr
primitiv.«
»Ist das gut?«
»Davon träume ich seit Jahren«, erklärte ich.
»Die Bakterien in dem Zytoplasma sind kommensal, aber nicht
symbiotisch – sie helfen der Zelle bei Atmung und Stoffwechsel.
Aber sie sind noch weit davon entfernt, Mitochondrien zu werden.
Vielleicht einige Hundertmillionen Jahre…«
Ich bekam eine Gänsehaut. »Mein Gott«, sagte ich
mit aller Ehrfurcht, deren ich fähig bin. »Vielleicht haben
wir’s hier mit Gespenstern aus dem Garten Eden zu tun. Mit
Gespenstern, die den Sündenfall nicht mitgemacht
haben.«
Dan war über dem Monitor des Applara zusammengesunken. Als
Valerie ihn wachrüttelte und ihm etwas ins Ohr flüsterte,
hob er den Kopf. Sein Gesicht hellte sich auf.
»Essen?«, murmelte er.
»Ich lade Sie ein«, erklärte ich. Ich sah Betty an.
»Sie sollten auch mitkommen. Und Bloom ebenfalls, falls er noch
hier ist.« Ich fühlte mich großartig – und
großherzig. Verdammt, ich war wie besoffen vor Freude.
»Erzählen Sie es Owen«, drängte Betty.
Als ich Montoya von Bettys Handy aus anrief, nahm er gleich beim
zweiten Klingeln ab.
»Ich sitze auf dem Klo, Betty. Was gibt’s?«
»Hier ist Hal«, sagte ich.
»Es ist fantastisch, Gott zum Gruß. Das Ei des Kolumbus
zum guten Schluss.« Ich holte tief Luft. Wenn wir müde
waren, neigten Rob und ich unwillkürlich dazu, recht sinnlose
Reime von uns zu geben. Und sie endeten in der Regel mit der Zeile: Wie wär’s mit ’nem Besuch bei Dr.
Seuss? [i]
»Kein faules Ei, wie ich hoffe«, erwiderte
Montoya trocken. »Bisher waren alle Neuigkeiten, gelinde gesagt,
beschissen.«
»Ich habe eine primitive Zelle geborgen. Primordial –
urzeitlich.« Und dann lehnte ich mich sehr weit aus dem Fenster.
»Von einer Art, wie wir sie seit drei Milliarden Jahren nicht
mehr gesehen haben. Mit gut lesbaren Bauplänen für die
bakterielle Vorherrschaft, von denen die Mitspieler kaum etwas
ahnen.«
»Reden Sie Klartext, Hal. Worauf läuft das
hinaus?«
»Ich glaube, ich habe die Liste der RNS und Genprodukte, die
Bakterien benutzen, um die Kontrolle über unsere Genome zu
übernehmen.«
»Und was werden Sie damit machen?«, fragte Montoya
geduldig.
»Einige der ablaufenden Zyklen unterbrechen, die
Zellrezeptoren blockieren, neue Bakterien entwickeln«, sagte
ich, als liege das auf der Hand. »Unsere Zellen
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