Jäger
achtzig oder neunzig Jahren, sondern eine von tausend,
zehntausend oder sogar hunderttausend Jahren…
Bisher war dies nur eine beunruhigende Spekulation, die – wie
mir sehr wohl bewusst war – der Relativierung und Klärung
bedurfte. Bislang hatte sie sich noch nicht zur regelrechten Phobie
ausgewachsen.
Im Alter von mittlerweile neunundzwanzig Jahren arbeitete ich noch
immer hart daran, nicht das zu entwickeln, was Rob einmal das
O-wie-bin-ich-wertvoll-Syndrom genannt hatte. Stets hatte ich mich
darauf verlassen können, dass Robs Scharfblick mich zur
Selbsterkenntnis zwang. Dabei wäre mir, ehrlich gesagt, ein
kleiner Urlaub vom Ich durchaus willkommen gewesen. Verglichen mit
dem Chaos der letzten Monate, mochte die Leere das reinste
Vergnügen sein. Ängste und Ichbezogenheit hatten in der
jüngsten Zeit mein Leben bestimmt – ein Leben als frisch
Geschiedener, als Guru für Radio-Talkshows (via Handy live auf
Sendung), als halber V.I.P.-Wissenschaftler, der gleichzeitig Almosen
erbettelte und Klinken putzte, als Träumer und Narr. Ein Leben,
bei dem ich diesen Schutzmantel, diese Außenhaut des Prinz
Hal, nie abgestreift hatte.
Gespenstisch.
»Sie schauen so nachdenklich drein«, stellte Dave
fest.
»Ich fühle mich nutzlos«, erklärte ich.
»So geht es mir manchmal auch. Dieses kleine Ding steuert
sich praktisch selbst«, bemerkte Dave. »Sie können mir
in zehn Minuten bei einer Routineprüfung helfen. Später
geben wir unseren Bericht ans Mutterschiff durch.«
»Klar.« Mir war alles recht.
Ich rollte mich herum und stellte die Liege so ein, dass ich im
Stil von Cousteau auf dem Bauch liegen konnte, näher an der
kalten Oberfläche der Luftblase. Mein Atem beschlug das glatte
Acryl, ein Nebelfleck in der unwirklichen Dunkelheit. Versuchsweise
hob ich meine Digital-Nikon, deren Objektivgehäuse ich mit einem
Gummiband umwickelt hatte, um die Tauchglocke nicht zu verkratzen.
Ich betrachtete das Kameradisplay, spielte mit der Belichtungszeit
und experimentierte mit der Pixeldichte und der
Dateigröße.
»Auch wer nur herumsitzt und abwartet, ist im Dienst«,
sagte Dave und justierte die Trimmung des Boots. Motoren jaulten auf
der Steuerbordseite auf. »Manchmal spielen wir auch
Schach.«
»Ich hasse Schach«, bekannte ich. »Zeit ist
kostbar, man sollte sie konstruktiv nutzen.«
Dave grinste. »Nadia hat mich schon gewarnt.«
Nadia Evans, die Nummer eins der Tauchbootpiloten auf der Sea
Messenger, lag krank in ihrer Koje auf dem Mutterschiff. Ein
verdorbener Sahnepudding hatte acht Mitgliedern unserer Crew ziemlich
übel mitgespielt. Nadia hatte vorgehabt, mich bei dieser
Tauchfahrt zu begleiten, aber eine Tauchkapsel ohne Toilette ist ein
denkbar ungeeigneter Ort, wenn man Durchfall hat.
Ich tat wohl besser daran, mich auf unser Ziel zu konzentrieren.
Und auf das, was wir dort vielleicht sehen würden.
Schließlich tauchten wir in extreme Regionen des Planeten
hinab, in denen wir endloser Dunkelheit und ungeheurem Druck
ausgesetzt sein würden.
Entlang des weit verzweigten Netzwerks aus Spalten und Rissen, von
dem uns immer noch mehr als eine Meile trennte, spien gewaltige
Unterwassergeysire brodelnde schwarze Wolken überhitzten
Wassers, toxischer Sulfide und Bakterien aus. Aus dem Gestein
gespülte Minerale und Metalle flocken beim Eintritt ins
kältere Grundwasser und bilden rund um die Geysire Schlote.
Einige dieser Schlote waren so hoch wie Industrieschornsteine und
hatten breite waagerechte Fächer ausgebildet, die riesigen
Baumschwämmen ähnelten. Überall sprudelte
schwefelhaltiger Ausfluss aus Rissen und Löchern. Wie schwarze
zähflüssige Zahnpasta quoll Magma aus den tieferen Spalten
hervor, schnappte vor wie ein angreifendes Reptil. Durch das
Hydrophon war zu hören, wie es in diesen Spalten zischte und
brodelte.
Spaßvögel unter den Ozeanographen hatten einen
besonders riesigen Schlot »Godzilla« getauft.
Tatsächlich beschwören die Geräusche die Vorstellung
von urzeitlichen Titanen herauf, die unsere Erde mit ganz eigener
Melodie besingen.
Dort unten ist das Wasser mit dem angereichert, was die Tiefsee
als chemisches Äquivalent für Sonnenlicht und Sauerstoff zu
bieten hat: Eine Schwefelwasserstoffsuppe nährt besondere
Bakterienarten, die ihrerseits die Basis für eine in sich
geschlossene Nahrungskette bilden. Röhrenwürmer siedeln auf
erkalteten Lavaströmen und vereinigen sich rund um den Schlund
des Geysirs zu Gemeinschaften, zu Wäldern, die wie eine
Ansammlung
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