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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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immer so gewesen, es
würde heute so sein. Egal, was geschehen war.
    Er musste mehr als dreihundert Meter zurückgehen.
Die Warnblinkanlage seines Wagens warf ein pulsierendes Rotlicht auf den
Asphalt. Die Straße war stellenweise glatt, die Nässe war gefroren, und er
musste im grasigen und kiesigen Bankett laufen, damit es ihm nicht die Beine
wegzog.
    Nach ein paar Minuten stand er an der
Absturzstelle des Wagens. Er sah Reifenspuren, die das Bankett tief durchpflügt
hatten. Und er sah den Wagen, oder besser: was davon übrig war, etwa fünfzehn
Meter tiefer verkeilt zwischen Bäumen. Das Rücklicht des Wagens brannte, und im
Schein dieses Lichts konnte er sehen, dass irgendwas an dem Fahrzeug qualmte
oder dampfte.
    Wenigstens brennt es nicht, dachte Tinhofer.
    Aber auch so war sein Vorhaben alles andere als
einfach. Von dort, wo er stand, konnte er nicht einmal vom Fahrzeugwrack ein
vernünftiges Foto schießen. Nicht jetzt bei Nacht. Und was hätte es ihm
genutzt. Welche Zeitung will schon einfach nur einen Blechhaufen abbilden – und
das, wo doch drinnen im Wrack ein Mann von zumindest lokaler Prominenz lag.
    Ich muss da hinunter, dachte er.
    Das Gelände brach steil ab. Der Boden machte
einen beinharten Eindruck. Das lange Gras war feucht, und es würde rutschig
sein. Ausgleiten würde er nicht dürfen. Denn Bäume wie die, wo sich das Auto
daran verfangen hatte, gab es nicht viele hier. Lediglich dünnes Gesträuch
wuchs an diesem Hang, und das Geäst bot den einzigen Halt beim
Nach-unten-Steigen.
    Tinhofer zögerte. Dann aber tat er den ersten
Schritt.
    Die Kamera hatte er sich umgehängt, nun ertastete
er mit den Händen die biegsamen Zweige der Sträucher. Er hatte Glück: Das
Gezweig war zäh, er konnte sich daran halten und ein Stück den Hang
hinabrutschen. Und es hatte keine Dornen!
    Nichtsdestotrotz war seine Vorgehensweise mühsam,
anstrengend und gefährlich. Trotz der Kälte kam er ins Schwitzen. Und er wusste
zugleich, dass es eine verdammt schwierige Angelegenheit werden würde, dort
wieder hinaufzukommen.
    Doch so weit war es noch nicht. Er musste noch
ein paar Meter hinunter, ehe er sehen konnte, was mit den Insassen des
Fahrzeugs geschehen war. Nicht etwa, dass er noch Zweifel gehabt hätte. Aber er
dachte schon wieder in Bildern. In möglichen Bildern. Und so ein Unfall konnte
schließlich so oder so aussehen. Er hatte schon Verunglückte fotografiert, die
aussahen, als wären sie sanft entschlafen …
    Als er beim verklemmten Wrack ankam, sich daran
festhielt und langsam auf die aufgeklappte Beifahrertür zurutschte, sah er
seine düsteren imaginären Bilder bestätigt. Es war schlimm. Nicht schlimmer als
erwartet. Aber auch kaum weniger schlimm.
    Er klammerte sich an die Beifahrertür, prüfte, ob
der Wagen sich nicht etwa noch lösen konnte von den ihn haltenden Bäumen,
merkte, dass da kaum Gefahr bestand. Er lehnte seine rechte Hüfte gegen die
Tür, nahm die Kamera von der Schulter, entfernte die Objektivkappe und …
    Droben hörte er ein Auto vorbeifahren, langsam,
aber gleichmäßig, und er sah den Lichtkegel gelb kommen und rot verschwinden.
    Irgendwie war er froh, ungestört zu bleiben. Aber
er wunderte sich auch, dass jemand einfach so an einem mit Warnblinker
abgestellten Fahrzeug vorbeifuhr.
    Er nahm die Kamera vors Gesicht, justierte das
aufgesetzte Blitzgerät und drückte ab.
    Es war schrecklich!
    Das Blitzlicht schuf für den Bruchteil einer
Sekunde eine bizarre, grelle, schreiende Szenerie.
    Das Mädchen war nackt. Sein Körper übersät von
winzigen Glassplittern. Die leuchteten im Blitz auf, und es sah aus, als
umhülle sie ein durchsichtiger, paillettenverzierter Stoff. Eine erotische
Modefotografie. Wäre da nicht das Blut gewesen, das viele Blut. Und das
fürchterlich entstellte Gesicht: Das Mädchen musste mit dem Kopf in die Scheibe
oder den Fensterholm gekracht sein, als das Fahrzeug in die Bäume gerast war.
    »Scheiße, scheiße, scheiße«, murmelte Tinhofer.
    Die rechte Gesichtshälfte war eingedrückt. Der
Mundwinkel zeigte verzerrt nach oben, aus der Augenhöhle kam ein Streifen Blut.
Das meiste Blut aber kam aus dem Kopf, wo die Haut auseinanderklaffte. Das Blut
rann ihr über die weniger versehrte Gesichtshälfte, zog dünne Spuren über den
Hals und lief bis auf die Brust.
    Tinhofer drückte den Auslöser.
    Im Blitzlicht erkannte er weitere Details. Er
wollte sie nicht sehen. Nicht hier, nicht jetzt. Erst in einer Stunde, wenn die
Dunkelkammer ihn

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