Jagablut
zergehen ließ und die in Rum getränkten
Rosinen am Gaumen zerdrückte, betrachtete ich die Bilder, die an der Stubenwand
hingen. Es waren ausnahmslos alte Stiche, die allesamt Jagdszenen aus dem
Hochgebirge darstellten. Da verharrte eine Gams im steilen Gelände, während
unter ihr ein Wasserfall über die Felsen stürzte. Ein Jäger, den langen Stecken
in der Hand, kämpfte sich mit seinem treuen Hund durch knietiefen Schnee. Ein
Wildschütz griff sich ans Herz und sank sterbend unter einer Tanne zu Boden.
Gerade als ich die naturgetreue Darstellung einer Gams mit seltsam hellem Fell
betrachtete, wurde ich durch eine Bewegung neben mir abgelenkt. Fräulein Steiner
stand neben meinem Tisch und war meinem Blick gefolgt.
»Zlatorog«, sagte sie sanft.
Ich hatte sie schlecht verstanden. »Slato…?«
»Das Goldkrickerl, da.« Sie zeigte auf die weiße Gams. »Wer eine solche
Gams schießt, den holt der Tod noch im gleichen Jahr, sagt man.«
»Ach, wirklich?« Sie musste doch wissen, dass ihr Bruder eine ausgestopfte
Albino-Gams im Flur hängen hatte, die an die vierzig Jahre alt war. Und Vinzenz
Steiner konnte man nur als sehr vital bezeichnen. »Das ist doch Aberglaube.«
Fräulein Steiner musterte mich. Sie trug einen karierten Schottenrock und
eine weiße Bluse. Um ihren Hals hing ein schweres Medaillon aus altmodischem
Rotgold. In den Händen hielt sie eine Handarbeit aus hellblauer Wolle. Sie
deutete auf den freien Stuhl mir gegenüber. »Darf ich mich ein wenig
dazusetzen?«
»Natürlich, gern.«
Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder und legte ihr Strickzeug auf den Tisch.
Es war ein Babyjäckchen, dem noch ein Ärmel fehlte.
»Für die Waisenkinder in Rumänien«, sagte sie und streichelte die weiche
Wolle. »Unser Herr Pfarrer veranstaltet jedes Jahr einen Basar, und wir sammeln
auch Spenden.« Ihr Ton schwankte zwischen Tugendhaftigkeit und Stolz. »Man muss
diesen armen Menschen ja helfen.«
Ich nahm einen Schluck Tee. »Wenn ich in meiner Praxis etwas tun kann,
Fräulein Steiner …« Vielleicht konnte ich ja auf diese Weise bei den
Einheimischen Punkte sammeln.
Sofort erschien ein Strahlen auf ihrem Gesicht. »Das ist wirklich nett
von Ihnen. Ich werde mit unserem Herrn Pfarrer darüber sprechen, wie S’
uns helfen können. Und nennen S’ mich ruhig Hansi, wie alle anderen auch.«
Na bitte. Ich erwiderte ihr Lächeln. »Gerne, Hansi.«
Hansi schaute wieder zu dem Stich mit der weißen Gams hinauf. »Unser Herr
Großvater war im Ersten Weltkrieg«, sagte sie. Sie fasste nach ihrem Medaillon
und fing an, damit zu spielen. »Und wissen S’ auch, warum?«
»Weil er eingezogen wurde, nehme ich an?«
Hansi schüttelte den Kopf. »Nein. Weil der Ferdinand eben die weiße Gams
geschossen hat, deshalb.«
»Welcher Ferdinand?«
Hansi neigte den Kopf ein wenig zur Seite und betrachtete mich mit
hochgezogenen Brauen. »Der Franz Ferdinand, natürlich. Der Erzherzog. Wissen S’
das denn nicht? Im August 1913 war das. Da hat der Franz Ferdinand die weiße
Gams geschossen. Im Blühnbachtal in Salzburg. Unser Herr Großvater war auch
dabei. Der war damals der Aufsichtsjäger, müssen S’ wissen.« Sie runzelte
die Stirn. »Alle, die dabei waren, haben’s gewusst. Dass ein Unglück geschehen
wird, alle.«
Solche Geschichten gingen nie gut aus. »Welches Unglück?«
Hansi starrte auf das Bild an der Wand, als hätte sie meine Frage nicht
gehört. »Der Jäger, der die weiße Gams schießt, stirbt binnen Jahresfrist«,
sagte sie. Ihre Hand umklammerte das Medaillon. Dann fixierte sie mich mit
ihren silbern schillernden Augen. »Die Kugel hat den Erzherzog im Juni 1914
getroffen. Nur zehn Monate nach der Jagd. In Sarajevo. Haben S’ das denn
nicht gewusst?«
»Doch«, sagte ich. »Doch, das natürlich schon.« Dass der Tod einer weißen
Gams den Ersten Weltkrieg ausgelöst haben sollte, war eine interessante
Theorie. Wenn auch unter Historikern sicher umstritten.
»So eine Torheit.« Hansi seufzte, nahm das Babyjäckchen und stand auf.
»Und dem Simon ist es nicht anders ergangen«, sagte sie. »Sie dürfen nie eine
weiße Gams schießen, hören Sie?« Der Blick ihrer seltsamen Augen ruhte
forschend auf mir.
Ich dachte an das tote Tier, das ich erst vor wenigen Stunden auf dem Almboden
hatte liegen sehen. An das gestockte Blut auf seinem schwarzbraunen Fell und
die warmen Eingeweide in meinen Händen. »Keine Sorge«, sagte ich. »Ich habe
kein gesteigertes Interesse an der Jagd.«
»Sehr
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