Jagablut
vernünftig.« Hansi nickte. »Sie wollen ja auch noch nicht sterben«,
schloss sie unser Gespräch in heiterem Plauderton ab. Sie hielt das
Babyjäckchen hoch. »Ich spreche also mit unserem Herrn Pfarrer, wenn’s Ihnen
recht ist.«
»Ja … tun Sie das.« Ich schaute ihr nach, wie sie durch die Stube
schritt und dann durch die Küchentür. Ich griff nach der Teetasse und wollte
einen Schluck nehmen. Aber der Tee war kalt geworden, und auf seiner Oberfläche
schwammen Hautfetzen. Stumpf und grau. Feldgrau.
FÜNF
Der Adler zog seine Kreise in der Luft. Mit ausgebreiteten
Flügeln, die langen Federn an den Enden seiner Schwingen aufgebogen, ließ er
sich vom Wind über das Tal tragen. Im immer gleichen Takt drehte er seinen
hellen Kopf von der einen zur anderen Seite. Nichts konnte ihm entgehen.
Plötzlich stockte der träge Rhythmus seiner Bewegungen. Der Adler öffnete den
Schnabel und schlug mit den Flügeln. Etwas riss ihn in die Höhe und ließ ihn im
nächsten Augenblick in die Tiefe stürzen. In immer engeren Kreisen wirbelte er
durch die Luft, bis er nur noch ein kleiner Punkt über den Wiesen war. Mit
einem dumpfen Laut prallte er auf die Erde.
Ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Mein Traum war so echt gewesen, dass
das Geräusch des Aufschlags noch in meinen Gedanken nachhallte. Da hörte ich es
wieder. Ein Rumpeln, als wenn etwas zu Boden fiele. Es kam aus der Wohnung des
Wirtes unter meinem Zimmer. Draußen war es noch dunkel. Ich griff nach meinem
Wecker und schaute auf das Zifferblatt. Erst fünf Uhr. Vinzenz Steiner brach zu
seinem angekündigten Jagdausflug auf. Anscheinend war er es nicht gewöhnt,
allzu viel Rücksicht auf seine Hausgäste zu nehmen. Unter mir fiel die
Wohnungstür ins Schloss. Vinzenz Steiner war gegangen.
Ich verbrachte den halben Tag im Jagawirt, wo ich mich mit
Unterlagen zur Kassenabrechnung herumschlug. Gegen zwei läutete mein Handy.
»Hausbesuch«, sagte Miranda. Da die Praxisräume noch nicht fertig waren,
hatte ich mich entschlossen, das Telefon besetzt zu halten, um für meine
Patienten in Notfällen erreichbar zu sein. Anscheinend hatte sich der Service
der neuen Ärztin herumgesprochen. »Rotter Alois, 78. Seit über einer Woche
hohes Fieber, Husten, Atemnot, starker gelblicher Auswurf. Seine Frau, die
Fanny, hat gerade angerufen. Sonnleiten 1, wissen S’, wo das ist?«
»Seit über einer Woche?« Eigentlich sollte doch jedem klar sein, was eine
Lungenentzündung für einen alten Menschen bedeutete. »Wieso rufen die jetzt
erst einen Arzt?«
»Der Alois hat Bronchitis«, sagte Miranda. »Hat er jeden Herbst. Die
Leute versuchen’s halt immer erst mal mit Hausmitteln.«
»Verstehe.« Diese Auffassung kannte ich zur Genüge aus meiner
Krankenhauszeit. In der Regel zogen Hausmittel schwerere Krankheitsverläufe und
mehr Medikamente nach sich. Ich ließ mir von Miranda den Weg beschreiben, schob
erleichtert den Papierkram auf dem Schreibtisch zusammen und fuhr los.
Die Frau, die mir die Tür des kleinen Einfamilienhauses am Sonnleitenweg
öffnete, war um die siebzig. Die rosafarbene Trachtenjacke spannte über ihrem
gewaltigen Bauch, die ausgewaschene Jeans war zu eng, und die breiten Füße
steckten in Gesundheitssandalen. Sie musterte mich kurz aus schiefergrauen
Augen, die mich an Kieselsteine erinnerten, dann nickte sie und führte mich
durch einen langen Gang in ein holzgetäfeltes Zimmer, eine Mischung aus
Landhausküche und rustikalem Wohnzimmer. Auch im schwachen Licht einer
Hängelampe konnte ich sehen, dass sich das ganze Familienleben der Rotters hier
abspielte. Auf der Bank am Kachelofen stapelten sich Zeitschriften neben einem
Korb mit Strickzeug, an der Wand hing ein Flachbildschirm, und auf dem Herd
simmerte eine Suppe und verbreitete einen süßlich riechenden Dampf, durch den
ich vor dem Fernseher eine große Couchgarnitur erkennen konnte. Es war
unerträglich heiß und stickig.
»Da isser«, sagte die Frau und deutete in Richtung der Couch. »Mein
Mann.« Sie machte keine Anstalten, näher zu treten.
Ich wusch mir die Hände über einem Waschbecken, in dem eine halb leere
Kaffeetasse stand, dann begann ich die Untersuchung meines Patienten. Alois
Rotter war nur noch Haut und Knochen, und sein Zustand zeugte nicht gerade von
bester Krankenpflege. Sein Schlafanzug war verschlissen, er war unrasiert, und
seine Fingernägel mussten dringend geschnitten werden. Immer wieder hustete er
und spuckte zähen gelben Schleim auf ein zerknülltes
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