Jagd auf Roter Oktober
Würde und Individualität. Schon als sehr junger Erwachsener hatte Marko seine eigenen Vorstellungen von gut und böse, die mit denen des Staates nicht übereinstimmten. Mit ihrer Hilfe beurteilte er eigene und fremde Handlungen. Diese Wertvorstellungen waren ein Anker für seine Seele und wie ein solcher tief unter der Oberfläche verborgen.
Dass der Junge mit ersten Zweifeln an seinem Land zu kämpfen hatte, konnte niemand ahnen. Wie alle russischen Kinder trat er erst den kleinen Oktobristen, dann den jungen Pionieren bei, marschierte in blanken Stiefeln und blutrotem Halstuch bei Kriegerdenkmälern auf und stand todernst mit einer unbrauchbar gemachten Maschinenpistole am Grab eines unbekannten Soldaten Wache. Als Knabe war Marko überzeugt, dass die tapferen Männer, deren Gräber er so feierlich bewachte, mit jenem selbstlosen Heldenmut in den Tod gegangen waren, den er aus den endlosen Kriegsfilmen im Kino kannte. Und besonders stolz war er, weil er einen hohen Parteifunktionär zum Vater hatte. Die Partei, das hatte er schon vor seinem fünften Lebensjahr hundertmal gehört, war die Seele des Volkes; die Einheit von Partei, Volk und Nation war die Dreifaltigkeit der Sowjetunion. Sein Vater entsprach ganz den Partei-Apparatschiks, die er aus dem Kino kannte: ein strenger, aber fairer Mann, auf bärbeißige Art gütig, der häufig fort war, seinem Sohn Geschenke mitbrachte und dafür sorgte, dass er alle Privilegien genoss, die dem Sprössling eines Parteisekretärs zustanden.
Nach außen hin war Marko ein Musterkind, innerlich aber fragte er sich, warum das, was er von seinem Vater und in der Schule lernte, im Widerspruch zu den anderen Lektionen seiner Kindheit und Jugend stand. Warum ließen manche Eltern ihre Kinder nicht mit ihm spielen? Warum zischten seine Klassenkameraden »Denunziant«, wenn er vorbeiging?
Irgendetwas stimmte nicht – aber was? Die Antwort musste er selbst finden. Aus freier Wahl begann Marko selbständig zu denken und beging so unwissentlich die für einen Kommunisten schwerste Sünde. Nach außen hin blieb er der Mustersohn eines Parteimitglieds, spielte überall mit und hielt sich an die Vorschriften. Und im Lauf der Jahre lernte er, die Handlungen seiner Mitbürger und -offiziere mit kühler Distanz zu beurteilen und sich seine Schlussfolgerungen nicht anmerken zu lassen.
Im Sommer seines achten Lebensjahres hatte er eine Begegnung, die sein Leben beeinflussen sollte. Wenn niemand mit dem »kleinen Denunzianten« spielen mochte, strolchte er hinunter zum Fischerhafen des kleinen Dorfes, in dem seine Großmutter wohnte. Jeden Morgen fuhr ein Sammelsurium alter Holzboote hinaus, unweigerlich abgeschirmt von Patrouillenbooten mit Männern vom MGB, wie das KGB damals hieß. Ihr bescheidener Fang besserte die proteinarme Kost auf und gab den Fischern einen winzigen Nebenverdienst. Kapitän eines Bootes war der alte Sascha. Als Offizier in der Marine des Zaren hatte er bei der Meuterei auf dem Kreuzer Aurora mitgemacht und so geholfen, eine Kette von Ereignissen auszulösen, die die Welt veränderten. Erst viele Jahre später erfuhr Marko, dass die Männer der Aurora mit Lenin gebrochen hatten – und von den Roten Garden brutal zusammengeschossen worden waren. Sascha hatte seine Rolle in dieser kollektiven Indiskretion mit zwanzig Jahren Arbeitslager gebüßt und war erst am Anfang des Großen Vaterländischen Krieges entlassen worden.
Als Marko ihn kennen lernte, war Sascha über sechzig, ein fast kahler Mann mit Muskeln wie Stricke, einem scharfen Seemannsauge und einem Talent für Geschichten, bei denen dem Jungen der Atem stockte. Er ließ Marko mit hinausfahren und brachte ihm die Grundlagen der Seemannschaft bei. Der noch nicht Neunjährige erkannte, dass seine Zukunft auf See lag. Dort gab es eine Freiheit, die er an Land niemals würde genießen können. Dort gab es eine Romantik, die den heranwachsenden Mann in dem Jungen ansprach. Zwar gab es auch Gefahren, doch Sascha brachte dem Buben mit einer Reihe simpler, wirksamer Lektionen im Lauf eines Sommers bei, dass man mit Bereitschaft, Können und Disziplin mit jeder Gefahr fertig wird.
Am Ende jenes langen Ostseesommers erzählte Marko seinem Vater von Sascha und stellte ihm den alten Seebären sogar vor. Ramius senior war von ihm und dem, was er seinem Sohn beigebracht hatte, so begeistert, dass er ihm durch Beziehungen ein neues, größeres Boot beschaffte und ihn an die Spitze der Warteliste für Wohnungen
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