Jagdszenenen aus Niederbayern
Gedanken macht, wird nicht oft Zeit haben, sich mit politischen Problemen zu befassen, die für sein Leben viel wichtiger sind; die herrschende Eigentumsordnung, die Steuergesetzgebung, das Eherecht usw. stoßen bei der Mehrzahl unserer Bevölkerung auf wenig Interesse. Mit politischer Uninformiertheit hängt die ängstliche, änderungsfeindliche Haltung und das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht gegenüber der bestehenden Ordnung zusammen. Viele vernünftige politische Initiativen bleiben deshalb erfolglos. Uniformierte Menschen lassen sich auch leichter beeinflussen, wenn Politiker und Wirtschaftler mit geschickter Propaganda das versprechen, was sich die meisten ersehnen: Sicherheit, Erfolg, Wohlstand, Ansehen im Ausland u. a.
Wie in Reinöd hat man bei uns Minderheitsgruppen, deren Angehörige als Sündenböcke dienen, an denen man die aufgestauten Haßgefühle glaubt auslassen zu dürfen. Sie entstehen im System unserer Gesellschaft zwangsläufig, können aber nicht gegen die eigentlichen Ursachen gerichtet werden. So meint man Ausländer, Gammler, Studenten, ehemalige Strafgefangene unter anderem für die Aushöhlung von Moral und Sitte, für das Ansteigen der Kriminalität usw. verantwortlich machen zu dürfen. Man erlaubt sich ihnen gegenüber Intoleranz, Feindseligkeit und aggressive Entgleisungen. Wenn es zu Auseinandersetzungen kommt, hat fast immer der Angehörige der Minderheitsgruppe Unrecht. Beklagt er sich, hält man ihm seine Andersartigkeit gleichsam als Argument entgegen, das alles entkräften soll -etwa nach dem Motto: Was willst du dreckiger Spaghetti überhaupt? Das Vorhandensein von Sündenböcken ist bei uns wie in Reinöd für den Bestand der herrschenden Ordnung wichtig. Sie könnte sonst durch die in ihr erzeugten Spannungen gefährdet werden.
Die Gefährlichkeit der Reinöder Mentalität und ihrer Entsprechung in unserer Umgebung kann man nicht überschätzen; sie können bei geeigneten politischen Konstellationen schnell wieder den Boden für totalitäre Entwicklungen abgeben. Die »Jagdszenen« können als Appell zur Mithilfe beim Abbau dieser Haltungen gesehen werden. Jeder hat an seinem Platz in der Gesellschaft Gelegenheit, sich gegen Mißstände, Ungerechtigkeiten, Unsinnigkeiten zu wenden und – am besten gemeinsam mit Gleichgesinnten – für ihre Aufhebung einzutreten. Der Einzelne hält sich oft für schwächer als er ist. Zwar beschränken die gesellschaftlichen Bedingungen die Möglichkeiten des Einzelnen, aber oft resigniert er schon, ohne den Spielraum voll ausgenutzt zu haben, der ihm zur Verfügung steht. Und er übersieht auch, daß sein Widerstand andere zu selbständigem Denken und Handeln ermutigen kann.
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