Jagdszenenen aus Niederbayern
zu kommen. Man steht sich mit Mißtrauen gegenüber, belauert sich mit kalter Neugier und ist schnell bereit, Klatsch aufzugreifen und das Opfer des Klatsches gehässig oder brutal zu behandeln. Geschieht Unrecht oder ist jemand in Not, so wagt man nicht, Hilfe zu leisten. Es kommt nur zu wenigen Versuchen -wenn etwa Maria anfangs Abram nicht kündigen will, oder wenn der Schlesier auffordert, Abram in Frieden zu lassen. Meist bleibt man gleichgültig und will nur seine Ruhe: So Volker, als Tonka in ihrer Verzweiflung mit ihm sprechen will. Die Reinöder fügen sich den im Dorf bestehenden Verhältnissen, die für die Mehrzahl von ihnen ungünstig sind. Man nimmt die herrschende Ordnung als gegeben hin. Versuche zu einer Veränderung gibt es nicht.
Auch Abram und die anderen, die unter den bestehenden Regeln besonders leiden müssen, unterwerfen sich ihnen. Abram zweifelt sogar an sich selbst wegen seiner Homosexualität.
Selten werden Ansätze zu einer Kritik der geltenden Ordnung wach. Man kann eigentlich auch von den Dorfbewohnern keine grundsätzlichen, weiterführenden Diskussionen erwarten. Sie kennen größtenteils nichts anderes als die Verhältnisse in Reinöd und Informationen, die ihnen neue Möglichkeiten der Gestaltung des Dorflebens aufzeigen könnten, sind kaum zugänglich. Sie haben nicht einmal die von der Lehrerin geplante Schulbibliothek erhalten. Die einflußreichsten Dorfbewohner – der Bürgermeister und der Pfarrer – die Änderungen in Gang bringen könnten, haben kein Interesse daran. Sie spüren, daß ein Wandel der Verhältnisse ihre Position gefährden könnte. Ohne daß ihnen dies klar bewußt ist, sorgen sie dafür, daß alles beim Alten bleibt. Der Bürgermeister, der die Schulbibliothek verhindert, sichert damit seine Stellung im Dorf. Er vermindert die Gefahr, daß in Reinöd jemand mit Gedanken in Berührung kommt, die eine kritische Haltung wecken könnten. Er will nicht, daß Dorfbewohner sich gegen seine Wünsche auflehnen -so wie Paula, die in der Fabrik »verdorben« wird und nicht mehr im Kirchenchor mitsingt und am Wochenende nicht mehr arbeitet, sondern selbständig über ihre Zeit verfügen will. – Der Bürgermeister hat guten Grund über Abrams und Tonkas Ausscheiden aus dem Dorfleben befriedigt zu sein. Denn die Zweifel, die Unruhe und die Fragen, die durch die Existenz der beiden geweckt würden, könnten dazu führen, daß an der im Dorf bestehenden Ordnung einiges fragwürdig erscheint. Und dann könnte auch seine Stellung als Bürgermeister Gegenstand der Kritik werden. Es könnte gefragt werden, warum der Bürgermeister mehr als das halbe Dorf besitzt. Es könnte gefragt werden, warum viele den Ausflug an den Königsee nicht bezahlen können und auf das Wohlwollen des Bürgermeisters angewiesen sind, der »großzügig« die Kosten für die Ärmeren übernimmt. Leiden müssen in Reinöd vor allem Menschen, die in irgendeiner Weise anders sind als die übrigen Dorfbewohner: Abram, Rovo, die Schlesier. Oder diejenigen, die bei Verstößen gegen die bestehende Ordnung ertappt werden, wie Volker und Maria. Diese Menschen sind wegen der Abweichung vom allgemein üblichen weitgehend rechtlos. Mit Abram kann man umspringen, wie man will. Georg tut das gründlich, ohne daß ihm ernsthaft Widerstand geleistet wird. Solche Abweichler dienen als Blitzableiter oder Sündenböcke, die für das Funktionieren und den Bestand der Reinöder Ordnung einen wichtigen Beitrag leisten. Gäbe es sie nicht, käme es zu Krisen im Dorfe. In einer Umgebung, in der man durch ständige Kontrolle genötigt ist, enge moralische Regeln einzuhalten, wird der Einzelne gezwungen, seine Bedürfnisse zu unterdrücken. Man muß auch Bedürfnisse unterdrücken, wenn man bei der bestehenden Eigentumsverteilung nur spärlich mit Besitz ausgestattet ist. In einer solchen Umgebung kommt es fast zwangsläufig zur Aufstauung von Haßgefühlen, Groll und Aggressionsspannungen, die nach Entladung drängen. Die Dorfbewohner sind sich aber der wirklichen Ursachen dieser Gefühle und Spannungen nicht bewußt. Auch wenn sie die Ursachen erkennen würden, könnten sie sich kaum dagegen auflehnen, da jeder für sich zu schwach ist. Eine gemeinsame Aktion der Dorfbewohner kann bei der gegenseitigen Isolation und dem Mißtrauen nicht zustande kommen. Auf die Sündenböcke oder Blitzableiter kann man dann ersatzweise die angesammelten Spannungen, Haß -und Wutgefühle abladen; das erleichtert den Einzelnen und macht
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