Jagdzeit
zählen sie dieses Tier zu den gefährdeten Arten? Ha! Vom Aussterben sind die jedenfalls nicht bedroht!
Ich warte auf das Gefühl von pickenden und schnappenden Schnäbeln, von scharfen Krallen im Genick, und sehe mich schon in hungrige, große Eulenaugen starren, als ich klar und deutlich Mimmers Stimme mitten in dem Wahnsinn sprechen höre. Ich hebe den Kopf.
»Werte Versammlung«, sagt er zu den Käuzen gewandt, die sich auf den Holzfässern niedergelassen haben wie das absurdeste Gericht der Welt, »lange Zeit hat kein menschliches Wesen mehr den Weg zu Urds Quelle gefunden. Verwaist liegt die Hütte seit vielen Jahren im ältesten Wald, gut behütet lagert der Honigwein in seinen Fässern, reift und wächst. Der Mensch erwirbt sich sein Recht, ihn zu kosten, wenn er die acht Stufen erklimmt.«
Zustimmendes Kauzgurren.
»Welche acht Stufen?«, platze ich heraus, woraufhin Frau Wurds Stimme aus dem Schnabel eines mageren, sehr dunkelbraunen Kauzes dringt.
»Du kennst sie bereits«, sagt das Tier.
»Ich …«
»Weißt du zu ritzen?«, fragt ein anderer Kauz mit der gleichen Stimme, »Weißt du zu erraten?«, fügt ein dritter hinzu.
»Weißt du zu finden?«, »Weißt du zu erforschen?«, ich komme kaum nach, den jeweiligen Sprecher auszumachen, immer mehr Käuze stimmen in den Chor ein, doch welcher ist Sibby? In welchem steckt die Hexe?
»Weißt du zu bitten?«, »Weißt du Opfer zu bieten?«, »Weißt du, wie man senden, weißt du, wie man tilgen soll?«
Ich schaue panisch von Kauz zu Kauz. Sie sind kaum zu unterscheiden, ähneln sich wie ein Federvieh dem anderen. Wie soll ich herausfinden, welcher mein Ansprechpartner ist?
»Frau Wurd? Sibby?«, brülle ich, um den Kauzchor zu übertönen. »Wo sind Sie?«
»Überall!«, antworten die Tiere gleichzeitig. »Jedes ist ein Teil, und jedes ist das Ganze.«
Das Echo hallt unheimlich von den Wänden wider: Ganze - Ganze - Ganze …
»Das ist das Geheimnis des Wünschens. Weil alles um dich aus derselben Substanz erschaffen wurde, aus Urds Quell gewachsen ist, steckt in allem immer auch ein Teil von dir. Diese Teile kannst du zu dir rufen, der Met unterstützt dich dabei.«
»Das will ich ja!«, schreie ich. »Doch was muss ich dafür tun?«
Ein einzelner Kauz flattert aus der Menge heraus und lässt sich auf Mimmers Schädel nieder. Er klackert mit dem Schnabel und sieht mich durchdringend an.
»Worte hast du gefunden, Dichter nennst du dich, folglich ist das Ritzen kein Problem. Die richtigen Antworten gabst du, den Weg in den Keller fandest du durch dunklen Wald und Labyrinth. Erforscht hast du die Runen und gebeten um das, was du in dir trägst. Gesendet und getilgt hast du, als du dich deinen Ängsten stelltest. Nun stehst du am Quell, und Zeit ist es, das Opfer darzubringen.«
»Opfer?« Das Wort klingt alt und fremd aus meinem Mund. »Was denn für ein Opfer?«
»Tritt an den Quell!«, befiehlt Mimmer. »Und sieh selbst!«
Als wäre mein freier Wille ausgeschaltet, bewege ich mich mechanisch an den Rand des Springbrunnens. Die Schwäne schwimmen gerade vorbei. Ich sehe ihnen nach und schaue dann auf mein Bild im Wasser. Es ist verschwommen, da das Wasser in Bewegung ist. Meine Mundpartie glättet sich als Erstes, dann meine Nase und schließlich … Ich schwanke, als ich erkennen kann, was der Fehler in der Spiegelung ist: Unter meiner rechten, säuberlich gezupften Braue klafft ein mehrere Zentimeter breites Loch. Wie grässlich! Die Wunde wirkt frisch, noch nicht vernarbt. Ich möchte die Hand heben, um dorthin zu greifen, doch sie ist schwer wie Blei, als stünde mein Körper unter einem Zauberbann. Ich bin gezwungen, weiter ins Wasser
zu starren. Mein Gesicht verändert sich, wird überlagert, und Sekunden später starrt mich der Wolf aus dem Wasser des Quells an.
»Gagnrad!«, keuche ich kaum hörbar.
Er sieht aus einem todtraurigen meerblauen Auge zu mir auf.
»Als ich das Zeichen in deiner Hand sah, wusste ich es, Olivia. Ich konnte es nicht verhindern, du hast den Weg gefunden. Lass mich dich ein letztes Mal warnen: Hüte dich vor dem Met! Er mag dir deinen Wunsch erfüllen, doch teuer bezahlst du diese Gabe.«
Du hältst dich an der Oberfläche auf, schmeichelt Mimmers sanfte Stimme, diesmal wieder in meinem Kopf, du musst tiefer blicken!
Tiefer. Ich lasse das Bild verschwimmen, als wäre es eine dieser 3D-Zeichnungen, die in meiner Schulzeit gerade populär waren. Und tatsächlich, das Blitzen von Gagnrads Pupille erhält
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