Jagdzeit
Aufregung lautstark in meinen Ohren. Ich weiß, ich bin meinem Ziel unglaublich nahe, ich kann es förmlich nach mir rufen hören!
Abrupt bleibe ich stehen. Ich kann tatsächlich etwas hören! Ich muss mit den Zähnen fest in meinen Handrücken beißen, um nicht in lauten Jubelgesang auszubrechen. Denn die zwei Geräusche, die mich etwa gleichzeitig erreichen, sind zwar völlig unterschiedlicher Natur, und doch ist jedes für sich genommen unsagbar schön. Tränen rinnen unkontrolliert über meine Wangen, als ich für einen Moment, den Kopf in den Nacken gelegt, lausche: Wasserplätschern und ein fröhliches, menschliches Pfeifen. Ich bin am Ziel!
Nach der nächsten Linksabzweigung wird der Gang deutlich höher und breiter und mündet schließlich in das größte und fantastischste Kellergewölbe, das überhaupt vorstellbar ist.
Der Boden besteht aus einem prachtvollen Steinmosaik, das den Wald und seine Tiere darstellt. Die Decke ist ebenso kunstvoll bemalt wie die Hexenhütte, das Gemälde zeigt einen wundervollen azurblauen Himmel, bevölkert von Hunderten verschiedener Vogelarten, deren Augen wohl glänzende Steine sind, zumindest funkeln sie wie Sterne. Die Fässer, die sich hier an den Wänden stapeln, sehen weit älter aus als jene in den anderen Räumlichkeiten, ihr Holz ist fast schwarz, sie sind mit schweren schimmernden Metallbändern eingefasst und durchwegs mit zierlichen Zapfhähnen bestückt. Ein herrlich intensives Honigaroma erfüllt die Kellerluft. Obwohl ich keine einzige Lichtquelle ausmachen kann, erstrahlt das riesige Gewölbe in einem warmen, goldenen Licht, das mich wohlig schaudern und die unterirdische Kälte vergessen lässt.
Doch wirklich sprachlos macht mich die Überraschung, die mich im Zentrum erwartet. Ich durchquere den halben Keller, um das Gebilde näher zu begutachten, das die Geräusche verursacht, die sich so wunderbar anhören. Fast glaube ich, es mit einer besonders subtilen Multimedia-Fata-Morgana zu tun zu haben, und ich wage kaum, zu tief Luft zu holen, aus Angst, ein Hauch könnte es fortwehen. Doch nein, es bleibt, wo es ist, und strahlt nur umso prächtiger, je näher ich komme.
Es ist nicht zu glauben! Hier, am allertiefsten Punkt des Waldes, am Ziel meiner Reise, plätschert, ja tatsächlich, ein runder, steinerner Springbrunnen fröhlich vor sich hin. Zwei wunderschöne weiße Schwäne schwimmen nebeneinander im Brunnenwasser, die eleganten Hälse malerisch gebogen. Ich kann meinen Blick kaum von diesen faszinierenden Tieren abwenden, die ihre Kreise in dem Becken ziehen. Doch Schwäne pfeifen nicht, richtig? Woher also kommt das zweite Geräusch, das
menschliche, wenn ich bisher keinen Menschen im Keller entdecken konnte? Das Pfeifen hört unvermittelt auf.
Manchmal muss man sich Zeit nehmen, die Dinge gründlich zu betrachten.
Ich will gerade etwas erwidern, als mir klar wird, dass ich die Stimme nicht nur in meinem Kopf, sondern auch real hören kann. Es ist dieselbe Stimme, die mich durch das Wurzelwerk hierhergeführt hat, seit Motzmarie so plötzlich verstummt ist.
»Was suchst du hier?«, fragt die Stimme. »Die Wahrheit etwa? Was für eine weltbewegende Suche ist doch jene nach der Wahrheit. Wie schade, dass man sie mit den Beinen vergeblich sucht. Da kann man noch so viele Treppen hinuntersteigen, am Ende liegt die Wahrheit in der eigenen Brust begraben, nirgends sonst. Hier bin ich, werte Besucherin, hier oben, direkt vor deiner Nase!«
Endlich habe ich den Ursprung der Stimme entdeckt, und der Schreck ist so groß, dass ich ihn erst einmal nur mit offenem Mund anglotzen kann, als hätte ich meinen Verstand an der Erdoberfläche zurückgelassen.
»Umgekehrt, meine Liebe!«
In der Mitte des Springbrunnens, das haben diese Einrichtungen ja so an sich, befindet sich der Wasserspeier, aus dessen Öffnung das Wasser ins Becken fließt. Völlig logisch. Nur dass in diesem speziellen Fall der Wasserspeier keine simple Öffnung ist. Es ist auch kein Löwenmaul oder ein Gefäß in den Händen einer kitschigen Steinputte, o nein. Am oberen Ende einer hohen Säule befindet sich ein menschlicher Kopf, aus dessen Mundwinkeln das Wasser in den Brunnen plätschert.
Das wäre an sich noch keine absolute Sensation, wenn man bedenkt, dass ich mich gerade meilenweit unter der Erde, unterhalb
eines extrem ungewöhnlichen Hexenhausbaumes befinde, einen gigantischen Brunnenschacht hinabgestürzt bin, nachdem ich gründlich dampfgereinigt wurde, und dass ein
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